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Wir sitzen zu acht im völlig überheizten Zugabteil. Es ist eng und stickig, doch außer mir scheint sich niemand daran zu stören. Geduldig, mit schicksals-ergebener Miene, schwitzen sie vor sich hin, meine Mitreisenden, während ich vergeblich versuche, die Heizung zu drosseln.
Mein fruchtloses Bemühen erntet teils verständnislose, teils nachsichtige Blicke. Und langsam dämmert mir, daß hier jede Mühe zwecklos ist. Einmal auf eine bestimmte Temperatur eingestellt, trotzt diese Heizung allen weiteren Regulierungsversuchen.
Kurz vor Ortelsburg halte ich es nicht mehr aus. Die Luft scheint total verbraucht, in meinen Schläfen hämmert es wie verrückt, und so schnappe ich mir Jacke und Handtasche und flüchte mich hinaus auf den Gang. Hier treffe ich auf eine Handvoll junger Leute, die sich für die Aussicht, im Abteil zu verschmoren, ebensowenig begeistern können wie ich.
Begleiteten uns vorhin noch endlos weite Ackerflächen, so durchfahren wir nun ein größeres Waldgebiet. Es ist Herbst, Pilzsammler sind unterwegs. Mit Korb oder Blecheimer bewaffnet, streifen sie gesenkten Blickes durch ihr "Jagdrevier". Birken säumen lange den Bahndamm. Von mildem Sonnenlicht beglänzt, heben sie sich prachtvoll vom dunklen Hintergrund des Waldes ab. Ihr Anblick entzückt mich zutiefst: goldenes Flirren über schlanken, hohen Stämmen - Stämmen von einem so makellosen Weiß, wie ich es nie zuvor gesehen habe.
Plötzlich kann es mir gar nicht langsam genug vorangehen. Vor fünf Minuten hat das ziemlich beschauliche Tempo des Zuges noch an meinen Nerven gezerrt - jetzt weiß ich es zu schätzen. Die Ellbogen aufs heruntergeschobene Fenster gestützt, halte ich die Nase in den Fahrtwind und genieße die kühle, klare Herbstluft. Alles um sich her vergessen, auch die eigene Person - hier gelingt, was sich sonst nur schwer bewerkstelligen läßt. Losgelöst von Zeit und Raum, träume ich zum Fenster hinaus.
Wir passieren Ortelsburg. Der alte Bahnhof mit seinem verandaähnlichen Vorbau grüßt herüber, verschönt, ja verzaubert vom matten Glanz der Herbstsonne . Für den Bruchteil von Sekunden streift mich die Vergangenheit, spüre ich ihren stillen, wehmütigen Hauch. Ich weiß, was sich hier in jenem Schicksalswinter abgespielt hat, kenne den tragischen Ausgang so manchen Fluchtversuches. Doch was immer ich auch gehört und gelesen habe - es beherrscht mich nicht, weder meine Gedanken noch meine Gefühle. Es zerrinnt angesichts dieses leuchtend schönen Herbst- tages.
Als ich den Kopf wende, begegne ich den lächelnden Augen eines jungen Mannes, der ebenfalls an einem der Gangfenster lehnt. Sein Blick signalisiert Interesse, aber auch Scheu, mich so einfach anzusprechen. "Fahren Sie noch weit ...?" höre ich ihn schließlich fragen. Ich bin angenehm überrascht. Mein Gangnachbar spricht Deutsch, ein ausgezeichnetes, akzentfreies Deutsch! Ein Landsmann also? Groß, blond, mit wachen, hellen Augen, könnte er durchaus einer norddeutschen Großstadt entstammen. Meine Vermutung bestätigt sich nicht. Der junge Mann ist hier geboren und hat auch nicht die Absicht, jemals fortzuziehen, wie er mir lächelnd, aber ernsten Blickes versichert.
Wir haben uns eben erst kennengelernt und doch ist von Anfang an Vertrauen, ja Vertrautheit im Spiel. Viel Zeit bleibt uns allerdings nicht. Während ich noch eine gute Wegstrecke vor mir habe, muß er bereits an der nächsten Station aussteigen. Und so stehen wir uns im langsam vor sich hin schlingernden Zug gegenüber und versuchen, jeden Gedanken an das absehbare Ende dieser Begegnung zu verdrängen. Es scheint ihm wichtig zu sein, daß ich bestimmte Dinge aus seinem Leben erfahre: daß seine Mutter Deutsche ist, daß er sein Studium in der ehemaligen DDR absolviert hat und nun an einer Schule als Sportlehrer arbeitet. Daß er das Land, in dem er aufgewachsen ist, über alle Maßen liebt - das verrät der zärtlich-prüfende Ausdruck seiner Augen, wenn er zwischendurch kurz aus dem Fenster schaut. Es gibt nichts Spektakuläres zu sehen, nur endlosen Kiefernwald und die zarte, durchsichtige Bläue des gewaltigen Him- mels. Doch sein Blick sagt mir: Dies alles ist mir vertraut - dies alles ist mir kostbar.
Gleichklang der Seelen, zieht es mir durch den Kopf. Denn man muß nicht unbedingt in diesem Land geboren sein, um es zu lieben. Eine gewisse Empfänglichkeit der Seele ist vonnöten, ein williges, dankbares Annehmen der Stille und die innere Bereitschaft, sich dem Rhythmus dieser Landschaft anzupassen ...
Mehr als zehn Jahre sind seit dieser Bahnfahrt vergangen. Damals begann sie zu keimen, meine Liebe zu Ostdeutschland. Und daß sie größer wurde und kräftige Wurzeln schlug, dazu hat vielleicht auch jene Episode im Zug beigetragen. Denn es sind Begegnungen mit den dort lebenden Menschen, die unsere Sympathie für einen bestimmten Landstrich noch vertiefen. Begegnungen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, die unser Herz berühren, in welcher Weise auch immer ...
An diesem leuchtenden Herbsttag zerrinnen alle trüben Gedanken |
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