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Mein Großvater ging im November des Jahres 1900 nach Biala zum Markt, um dort einzukaufen. Es war ein Fußweg von etwa neun Kilometern, der überwiegend durch den Wald führte. Auf dem Markt traf er einige Bekannte, und das Wiedersehen wurde mit einigen Körnchen im Krug begossen. Als er sich dann auf den Heimweg machte, war es schon schummrig, und als er das Dorf Konopken (Mühlengrund) hinter sich hatte, war es inzwischen stockfinster geworden. In Kruzewen (Erztal) begann der Sandweg nach Misken. Kaum ging er den Weg einige Meter, sah er plötzlich am Wegrand einen Wolf stehen, so als ob der schon auf meinen Großvater gewartet hätte. Was machen? Weglaufen nützte nichts, der Wolf hätte ihn gleich eingeholt. Also setzte er seinen Weg ruhig fort.
Der Wolf lief gemächlich neben ihm her bis nach Misken. Natürlich hatte der Großvater Angst; die Haare standen ihm zu Berge. Er überlegte, wie er den Wolf loswerden könne, aber es fiel ihm nichts ein.
Als er nun aus dem Wald kam und die ersten Häuser von Misken sah, versuchte er ganz nahe an den Gebäuden entlangzugehen. Der Wolf trabte so zwei, drei Schritte mal neben, mal vor dem Großvater. Als er an seinem Haus war, ging er ganz nahe am Staketenzaun entlang, um bei günstiger Gelegenheit ins Haus zu kommen.
Am Hauseingang angekommen, war der Wolf zum Glück etwa zwei Schritte vor ihm, das nutzte der Großvater aus und sprang zur Tür, öffnete sie blitzschnell, sprang hinein und warf die Tür zu. Damit hatte der Wolf nicht gerechnet. Er sprang schnell zur Tür und wollte ebenfalls hinein. Als es ihm nicht gelang, wurde er wütend, stellte sich auf die Hinterfüße, heulte laut und kratzte mit den Vorderpfoten an der Haustür. Als er merkte, daß er nicht hineinkam, versuchte er in den danebenliegenden Pferde stall zu kommen und wollte unter dem Fundament in den Stall gelangen. Er versuchte an zwei Stellen mit den Pfoten Löcher zu buddeln, aber auch das gelang ihm nicht. So trottete er denselben Weg, den er gekommen war, in den Wald zurück.
Vor einigen Jahren erzählte ich diese Geschichte meinem jüngsten Enkel Kai, der aufmerksam zuhörte. Als wir dann vor zwei Jahren mit unseren Kindern und Enkeln unsere ostdeutsche Heimat besuchten, gingen wir auch den Weg von Kruzewen nach Misken. Plötzlich fragte Kai: "Opa, ist das derselbe Weg, den dein Großvater mit dem Wolf gegangen ist?" Da merkte ich, daß unsere Kinder und Enkel gerne unsere Geschichten von früher hören und sicher auch ihren Kindern weitererzählen. Denn wir, als die letzte Erlebnisgeneration, sollten alles tun, damit unsere Heimat nicht vergessen wird.
Im Königsberger Tiergarten: Die Autorin 1991 unter dem Standbild des gewaltigen Elchs |
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