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Auf der zentralen Veranstaltung zum Volkstrauertag im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin, an der auch Bundespräsident Rau und Bundesinnenminister Schily teilnahmen, hat - wie bereits berichtet - die Ostpreußin Hildegard Rauschenbach eine eindrucksvolle Rede gehalten. Nachfolgend dokumentieren wir den Text ihrer Ansprache:
Ich bin Hildegard Rauschenbach, geboren in Ostdeutschland, Kreis Pillkallen. Bei Kriegsende bin ich, nach unzähligen Demütigung en durch die sowjetische Soldateska, nach Sibirien verschleppt worden. Nach dreieinhalb Jahren Schwerstarbeit wurde ich entlassen.
Daß ich heute hier stehe, verdanke ich dem Mitleid der Menschen aus dem Ural-Gebiet.
Bereits 1984 habe ich über meine Gefangenschaft ein Buch geschrieben, das, ins Russische übersetzt, zur Jahrhundertwende in Sibirien erschienen ist. Mein Vorwort, extra für diese Ausgabe, lautet:
Liebe Menschen in Schadrinsk, schon 1984, als dieses Buch entstand, hatte ich geschrieben: „Ein stiller Dank sei den russischen Menschen gesagt, die uns halfen, obwohl sie selbst nur das Nötigste zum Leben hatten...“ Heute kann ich dieses nur mit ganzem Herzen wiederholen, und ich bin glücklich, daß Sie dieses lesen können.
Ich glaube, mir war damals Ihr Mitgefühl ebenso wichtig wie ein Stückchen Brot oder ein paar Kartoffeln. Es tat so gut zu hören: „Mädchen, du tust mir so leid. Krieg ist sehr schlecht, aber wir haben nicht Schuld und ihr habt nicht Schuld.“
Dieser Satz hat mich oft bewegt, und vielleicht hat er bewirkt, daß ich jede Möglichkeit wahrnehme, für Verständigung zwischen unseren Völkern zu werben. Wir, das Volk, müssen lernen, uns zu verstehen, und wir dürfen uns nicht von machtbesessenen Herrschern in einen Krieg hetzen lassen! Oh, was habe ich vor zwei Jahren die russischen Mütter bewundert, die nach Tsche-tschenien fuhren und ihre Söhne aus dem Krieg holten!
Die schweren Jahre in Sibirien haben bewirkt, daß ich heute immer wieder dankbar bin für alles Gute, das mir das Leben bietet. Ich bin nicht reich, aber ich habe einen lieben, verständnisvollen Mann, und wir haben einen wunderbaren Sohn und eine liebe Schwiegertochter, wir sind eine glückliche Familie. Ich bin für alles Leid tausendfach entschädigt worden, dafür bin ich sehr, sehr dankbar.
Ich wäre glücklich, wenn ich mit meinem Buch einen kleinen Mosaikstein zum gegenseitigen Verstehen beigetragen habe, und hoffe von Herzen, daß unsere Kinder und Enkel in ein neues, friedliches Jahrhundert gehen.
Das Buch hat in der Stadt enormes Aufsehen erregt. Und - obwohl ich darin ihre so ruhmreiche Rote Armee entglorifiziert habe - sind mir die Menschen dankbar fürs Aufschreiben. Und - sie zweifeln es nicht an!
Der derzeitige Direktor der Fabrik, für die ich damals gearbeitet habe, lud mich nach dem Lesen des Buches sofort mit meinem Mann ein, und wir haben in den acht Tagen von allen Seiten eine überwältigende Herzlichkeit erfahren.
Das russische Fernsehen filmte unseren Besuch, im voll besetzten Bibliothekssaal lauschten die Menschen meinen Worten, und meine bereits seit 1991 bestehende Verbindung nach dort hat dazu geführt, daß 1996 von Bürgern der Stadt ein Gedenkstein gesetzt wurde, mit der Inschrift in Russisch und Deutsch: „Hier ruhen deutsche Frauen und Mädchen, die von 1945 bis 1948 im Lager verstorben sind.“ Der Stein steht im Wald an der Stelle des nicht mehr existierenden Lagers, an einem Massengrab, und, wie man mir sagte, legen Leute dort öfter Feldblumen nieder. Und - man staune - im Stadtmuseum ist uns verschleppten Frauen mit einigen Dokumenten und Exponaten gedacht worden!
In meinem letzten Buch habe ich meinen beiden gefallenen Brüdern (beide hatten sie zur gleichen Zeit Fronturlaub vom Nordabschnitt der Sowjet-Union erhalten) ein Kapitel gewidmet. Daraus zitiere ich eine Passage:
„... Es folgten für uns alle zwei unvergeßliche Wochen. Meine Mutter war glücklich, ihre Jungs mit allem, was in Speisekammer, Keller und Räucherkammer vorrätig war, zu verwöhnen. Hühner wurden geschlachtet, diverse Weckgläser geöffnet, Mamachen stand am bullernden Herd, kochte, backte und briet, und sie summte vor sich hin; was ich schon lange nicht von ihr gehört hatte. Sicher haben sich meine Brüder auch über das Kriegsgeschehen unterhalten, mit uns sprachen sie darüber nicht. Aber Alfred hatte Fotos mitgebracht, die ihm ein Frontberichterstatter überlassen hatte, die zeigte er uns kommentarlos. Sie bedurften auch keines Kommentares, sie zeigten überdeutlich die gräßliche Fratze des Krieges: gefallene sowjetische Soldaten im Morast liegend, einige mit aufgedunsenen Gesichtern, fehlenden Gliedern, anderen war das halbe Gesicht weggerissen. Ich weiß nicht mehr, ob oder was ich gesagt habe. Hier konnte man nur sprachloses Entsetzen empfinden. Den Anblick der Fotos konnte ich nie vergessen, wie auch nicht Werners nachdenkliche Worte: „Ich wünsche mir nur einen anständigen Kopfschuß.“
Wie schwer muß meiner Mutter nach diesen vierzehn Tagen der Abschied von ihren beiden Söhnen gewesen sein! Welch ein Gefühl der Ohnmacht muß sie umfangen haben, ihre Söhne an die Front gehen lassen zu müssen, mit der Furcht, sie nie wiederzusehen.
Was wurde - und was wird - den Millionen von Müttern der ganzen Welt nur angetan? Der Staat befiehlt - und die Mutter muß ihren Sohn hergeben. Sie ist machtlos. Als in den achtziger Jahren die Friedensbewegung mit dem Satz von Bertolt Brecht „Stellt euch vor, es ist Krieg und keiner geht hin …“ versuchte, die Menschen aufzurütteln, habe ich mir mit heißem Herzen gewünscht: Wenn das doch einmal wahr werden könnte - alle, alle Männer der Welt verweigern dem jeweiligen Regime, in den Krieg zu ziehen.
Jeder Krieg ist ein Verbrechen - und das Volk ist immer der Verlierer, auch das des sogenannten Siegers.
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