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Nicht einmal 16 Jahre ist es her, seit die Menschen in der damals noch real existierenden DDR auf die Straße gingen und mit der Parole "Wir sind das Volk" jene friedliche Revolution einleiteten, die zur Vereinigung von West- und Mitteldeutschland führte. Der in der Alltagssprache als Wiedervereinigung bezeichnete Vorgang wandelte "das" Volk in "ein" Volk - das eine wie das andere aber geriet alsbald in Vergessenheit, zumindest bei den Politikern.
Schon unter Kohl, erst recht aber seit der rot-grün en Machtübernahme kam und kommt das Volk nur noch in unvermeidlichen Ausnahmefällen vor, etwa anläßlich von Wahlen. Dann darf der "oberste Souverän" (so die Verfassungstheorie) sein Kreuzchen machen; mit dem Resultat hat er anschließend eine Legislaturperiode lang sein Kreuz. Irgendwann macht er den Stimmzettel zum Strafzettel, wählt einfach nicht mehr so, wie Demographen, Politiker und Demagogen (der Übergang ist fließend) sich das wünschen. Bei solchen Gelegenheiten entdeckt die politische Klasse voller Überraschung, daß es tatsächlich "das" Volk gibt.
In Deutschland traf der vernichtende Schlag in Form des Satzes "Wir sind das Volk" die Herrschenden am Abend des Wahltags in NRW. Wenige Tage später folgten der zweite und der dritte Streich auf europäischer Ebene: Die Völker Frankreichs und der Niederlande verweigerten sich der regierungsamtlich verordneten EU-Euphorie und stimmten gegen die geplante europäische Verfassung. Damit bekundeten sie nicht nur Ängste vor der Zukunft eines Europas nach dem Geschmack der politischen Klasse in ihrem Erweiterungs-, Zentralisierungs- und Bürokratisierungstaumel, sondern auch Wut und Verärgerung über die längst vollzogenen und kaum noch reparablen Fehlentwicklungen (zu denen auch die überhastete, stümperhafte und von den Völkern nicht autorisierte Einführung des Euro gehört).
Welche Konsequenz aber ziehen die Politiker daraus? Gar keine beziehungsweise wieder einmal die völlig falsche. Da treffen sich Frankreichs Präsident Chirac und Deutschlands Noch-Kanzler Schröder in Berlin und jammern sich gegenseitig vor, leider habe das störrische Volk immer noch nicht kapiert, wie toll doch alles ist - die EU-Verfassung, Europa insgesamt, vor allem aber sie selbst, Jacques und sein ami Gerhard!
Das ist es also, was in den Köpfen führender Politiker hängengeblieben ist von jenem grandiosen "Wir sind das Volk": Das Volk ist dumm, es muß solange "aufgeklärt" werden, bis es endlich versteht, daß "wir Politiker" ja nur sein Bestes wollen. Gerade bei dieser in Sonntagsreden so beliebten Formulierung aber sollte der Bürger wachsam sein: Meistens meinen Politiker, die "unser Bestes" wollen, damit unsere Wählerstimmen oder unser Geld - oder beides.
Der Kanzler jedenfalls ist von derlei Erwägungen so begeistert, daß er sie von der europäischen gleich auch auf die nationale Ebene überträgt. In den vorgezogenen Bundestagswahlkampf zieht er mit der wahrhaft verblüffenden Erkenntnis: "Wir haben alles richtig gemacht, das Volk hat alles falsch verstanden." Zur Zeit deutet freilich nichts darauf hin, daß "das Volk" gewillt wäre, bis zum Wahltag alles "richtig" zu verstehen. Pech für Schröder: Im Herbst könnte es so kommen, wie einst von Brecht vorgezeichnet - da die Regierung sich kein anderes Volk suchen kann, wird das Volk sich eine andere Regierung wählen. Und auch die Chiracs, Verheugens, Barrosos und Erdogans werden sich für ihr Europa keine anderen Völker suchen können.
Denn das Volk - nicht nur in NRW, in Frankreich und in Holland - hat sehr wohl verstanden, was gute und was schlechte Politik ist. Höchste Zeit, daß unsere Politiker dies endlich verstehen - und den längst vergessenen Satz wieder respektieren: "Wir sind das Volk!" |
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