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Das in den Städten Chinas seit Jahrzehnten brutal durchgesetzte Einkindersystem hat mittlerweile als massenhaftes Einzelkindersyndrom den Charaktertypus des verwöhnten Egoisten unter vielen jungen Leuten hervorgebracht, dem es nur um den persönlichen Vorteil geht.
Trotzdem sind die Chinesen kein gefügiges Volk. Wenn der Leidensdruck und das Gefühl von erlittenem Unrecht stark genug sind, macht sich die beleidigte und erniedrigte Volksseele laut und vernehmlich Luft. Die Machthaber in Peking, denen nach jahrzehntelangen Parteikarrieren das Schicksal ihrer Unterschichten ansonsten herzlich gleichgültig ist, führen dazu akribisch Buch. Von 10000 "Zwischenfällen" (Sitzstreiks, Krawallen, Demonstrationen, Arbeitsniederlegungen) mit 730000 Teilnehmern im Jahr 1994 stieg ihre Zahl in einem Jahrzehnt auf 74000 Zwischenfälle mit 3,7 Millionen Teilnehmern an. Auch steigt die Zahl der in Peking eingereichten Petitionen springflutartig an, von denen nur zwei Promille positiv entschieden werden. Anlässe sind stets örtliche Beschwerde n zu Brot-und-Butter Themen: Unbezahlte Löhne, hohe Steuern, willkürliche Landnahmen, behördliche Enteignungen, korrupte Staats- und Parteifunktionäre. Eine nationale Bewegung ist aber nirgends erkennbar. Bei Krawallen und Streiks reagiert die Partei immer nach dem gleichen Muster: Sie werden von der Miliz gewaltsam zerschlagen und die vermeintlichen Rädelsführer hart abgestraft. Dann werden besonders unfähige örtliche Funktionäre strafversetzt und einem Teil der Beschwerden abgeholfen. Das ermutigt manchmal die nächsten Proteste, da der Rechtsweg wirkungslos erscheint.
Seit 2002 sind das Hauptmotiv willkürliche Landbeschlagnahmungen, sei es für Großprojekte wie den Dreischluchtendamm oder die Olympischen Spiele, seien es die vielen Entwicklungsprojekte für Industriezonen und Neubaugebiete in der Provinz, wegen denen seit den 90er Jahren 40 Millionen Bauern ohne Eigentumstitel landlos wurden und städtische Hausbesitzer nur minimal entschädigt wurden.
Trotz aller Unterdrückung wird die Pekinger Führung deutlich nervöser. Jeder Versuch einer unabhängigen vereins-, partei-, oder gewerkschaftsähnlichen Organisation wird sofort zerschlagen. Die Zensur des Internets und von Printmedien wurde dramatisch verschärft. Doch die Chinesen fügen sich, denn vor 30 Jahren haben die 140 bis 200 Millionen aktuellen Mittelschichtler in China noch in absoluter Armut und Rechtlosigkeit leben müssen. Bis heute haben sie sich durch unglaublichen Fleiß und Sparsamkeit einen bescheidenen Wohlstand und eine Privatsphäre in den eigenen vier Wänden erarbeiten können.
Solange die Partei weiteres Wachstum und eine weitere Besserung der materiellen Lebensverhältnisse gewährleisten kann, werden diese Mittelschichten und jene, die dazugehören wollen, die offenkundigen Mißbräuche der Machthaber tolerieren. Wird diese rosige Zukunftsperspektive durch den Verlust der Einlagen in einer Bankenkrise, den Abzug des Auslandskapitals, oder den Verlust der Arbeitsplätze nach dem Zusammenbruch der Exportmärkte ausgelöscht, so stellt sich die Macht- und Legitimitätsfrage in China radikal neu. |
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