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Vor einem Jahr war Christel zur Bundesvorsitzenden der Berufsweihnachtsmänner gewählt worden. Natürlich erfüllte sie ihr neuer Job mit einem gewissen Stolz. Mittlerweile hatte sie auch die Organisation fest im Griff, aber daß sie einmal nächtelang hinter dem Schreibtisch verbringen müßte, wäre ihr nicht mal im Traum eingefallen.
Vor ihr stapelten sich Briefe von Kindern, die darüber Klage führten, am letzten Heiligabend entweder viel zu spät oder gar nicht vom Weihnachtsmann beschert worden zu sein. So drastisch hatte sich der Personalmangel bemerkbar gemacht. Und nun mußte jeder Brief beantwortet werden. Künftig würden alle Kinder pünktlich beschert, versprach die Bundesvorsitzende am Schluß jeden Briefes.
Christel gähnte ein paarmal. Langsam fielen ihr die Augen zu, und sanft landete ihr Kopf auf der Tischplatte.
"So, jetzt reicht es aber endgültig", sagte Verona, Christels Sekretärin besorgt. "Du willst doch nicht einen Nervenzusammenbruch erleiden? Morgen ist auch noch ein Tag! Wir arbeiten das schon noch auf.
"Fragt sich nur, wann, denn täglich trudeln neue Briefe ein", meinte Christel und rieb ihre geröteten Augen. "Die Zeit läuft uns davon."
"Wir schaffen das garantiert. Nur keine Panik!" munterte Ve-rona ihre Chefin auf. "Du tust mir manchmal richtig leid. Oft siehst du total überarbeitet aus ... Hast du dich etwa mit dem Amt übernommen?"
"Drüber mach du dir man keine Sorgen, Verona", wehrte Christel ab. "Ich werde meinen Plan einhalten. So oder so! In vierzehn Tagen sieht alles bestimmt anders aus: Einteilen der Bezirke mit überwiegend jungen Kräften und Vorbereitungen für die Jahreshauptversammlung."
"Womit willst du sämtliche Bezirke besetzen?" wollte Verona wissen.
Fast beleidigt entfuhr es Christel: "Habe ich nicht genug Weihnachtsmänninnen ausbilden lassen? Ebenso eine beträchtliche Anzahl junger Burschen angeworben, die auf der Weihnachtsmannschule glänzende Noten erzielten. Alle sind sie einsatzbereit. Altgediente und nicht mehr voll belastbare Weihnachtsmänner werde ich pensionieren."
Verona wiegte nachdenklich den Kopf, rümpfte kurz die Nase und sagte: "Nimm dir bloß nicht zu viel vor, liebe Christel, denn einmal kommt es anders, und zweitens als man denkt!"
"Wie kann man nur so pessimistisch sein", entgegnete Christel schwach lächelnd. "Jedenfalls bin ich stolz auf meine bisher geleistete Arbeit und freue mich riesig auf die Jahreshauptversammlung, sehe schon im Geiste die strahlenden Augen der einsatzfreudigen Weihnachtsmänninnen vor mir, die begeistert auf ihren ersten Einsatz warten."
Endlich waren alle Briefe beantwortet. Jetzt mußte ein geeigneter Versammlungsort mit einer großen Halle gefunden werden. Auch das Problem löste Christel spielend. Unweit von Hannover stellte ihr ein Reiterverein seine geräumige Reithalle zur Verfügung, die zweifelsohne der Versammlung genügend Platz bieten würde, vorausgesetzt, daß auch alle Einladungen befolgt würden. Christel war voller Vorfreude.
So langsam füllte sich die Halle bis auf den letzten Platz. Hin und wieder rümpfte einer die Nase, des eigenartigen Geruchs wegen, aber die Stimmung war hervorragend. Erfreut registrierte Christel, daß eine beträchtliche Anzahl Weihnachtsmänninnen und Jung-Weihnachtsmänner erschienen waren. Somit stand für sie eindeutig fest: Ihre Planung war richtig gewesen; alle Bezirke konnten besetzt werden.
Christel hatte auch ein neues Programm arrangiert: Nicht wie sonst wurden eingangs Weih-nachtslieder gesungen, sondern ein Posaunenchor brachte Choräle dar. Auch die Eröffnungsrede fiel kurz aus. Noch ein paar einfühlsame Worte zum Gedenken der verschiedenen Kollegen, danach ein Tusch des Posaunenchors, und die Bundesvorsitzende schritt zum Pult.
"Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß gar nicht, wie ich meiner unsäglichen Freude Ausdruck verleihen soll, vor einem überfüllten Raum, vor euch stehen zu dürfen, die ihr meiner Einladung gefolgt seid. Vor allem darf ich unseren Nachwuchs recht herzlich begrüßen, die vielen Weihnachtsmänninnen, auf deren Schultern alles ruhen wird. Sie werden die bisherigen Lücken schließen und garan- tieren, daß diesmal auch das letzte Kind pünktlich beschert wird."
"Aber nur vielleicht!" rief jemand aus der hinteren Reihe.
Christel ignorierte den Zwischenruf und fuhr weiter fort: "In Anbetracht der Tatsache, daß ich einen enormen Zuwachs an jungen Kräften zu verzeichnen habe, kann ich mich dazu entschließen, unsere alten und gebrechlichen Kollegen in den Ruhestand zu versetzen."
"Damit würde ich an deiner Stelle nicht so voreilig sein", gab ein altgedienter Weihnachtsmann aus Berlin zu bedenken.
Auch diese Bemerkung überhörte Christel lächelnd, strich kurz durch ihr volles Haar und erläuterte ihren Entschluß: "Wer jahrzehntelang den Weihnachtsmannberuf ausübte, ist verbraucht, zu langsam, nicht mehr einsatzfähig. Am Schluß der Versammlung werde ich den betreffenden Kollegen die Entlassungsurkunden aushändigen."
Laut lachte ein bayerischer Weihnachtsmann auf und meinte: "Nimm deine Entscheidung schnell zurück! Du brauchst uns noch."
"Richtig! Jeden von uns wird sie dringend brauchen", pflichtete ihm Weihnachtsmann Hubertus aus Bremen bei. "Christel verkennt die Lage!"
Kichern, Schmunzeln, Gelächter. "Datt kann sich doch jeder an finf Fingers aftelle, watt opp de School mett dä junge Dingers passiert eß", meldete sich August, der noch seinerzeit in Königsberg ausgebildet wurde, die Achtzig bereits überschritten hatte.
Jetzt wurde Christel stutzig und wollte wissen, was die Anspielungen zu bedeuten hatten. "Herzlich gern", ergriff nun Oberweihnachtsmann Heinrich aus Köln das Wort: "Du hast sehr viel geleistet, liebe Christel. Sogar Weihnachtsmänninnen ausbilden lassen, sie mit Planstellen versehen, aber die meisten sind Weihnachten nicht einsatzfähig." - "Konkreter, bitte konkreter!" drängte Christel nervös.
Erneutes Schmunzeln und verhaltenes Gelächter, bis Heinrich deutlicher wurde: "Geh doch mal durch die Reihen und wirf einen Blick auf die vielen runden Bäuchlein unserer Kolleginnen. Die meisten erwarten zu Weih-nachten Nachwuchs und sind demnach nicht einsetzbar." Nachdem Christel den Tatsachen ins Auge geschaut hatte, schlich sie zum Podium zurück. Geschockt und ratlos wandte sie sich an ihre Sekretärin: "Was nun? Habe ich einen Fehler gemacht? Jetzt ist alles aus!"
"Nun beruhige dich man erst", sagte Verona einfühlsam. "Erstens wird kein Weihnachtsmann entlassen. Zweitens sorge ich umgehend für Ersatzweih-nachtsmänner aus dem Ausland. Und drittens, das ist der wichtigste Punkt, mußt du dafür Sorge tragen, daß auf der Weihnachtsmann-Schule Männlein und Weiblein künftig in separaten Häusern untergebracht wer- den .. |
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