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Ich bin in einem Bahnhofshaus geboren. Rosengarten hieß der Haltepunkt, an dem sich morgens, mittags und abends Personenzüge aus Angerburg und Rastenburg kreuzten. Nur der Güterzug um 11 Uhr hatte keinen Gegenpart. Das Zimmer, das ich mit meinem zweieinhalb Jahre älteren Bruder teilte, hatte sein Fenster nicht zu den Gleisen, sondern zur anderen Seite, zur Straße hin. Dennoch waren das Pfeifen und Stampfen, das Zusammenprallen der vielen Puffer in unserer Stube zu hören. Wir waren das gewohnt, es gehörte zu unserem Leben. Bei mir - wie gesagt - schon seit meiner Geburt.
Als unser Vater - er war Bahnmeister (offiziell technischer Reichsbahninspektor) - in das oberländische Städtchen Mohrungen versetzt wurde, mußten wir natürlich alle mit. Das Haus, in das wir nun zogen, stand an keinen Gleisen. Wir mußten vom Bahnhofsgebäude, in dem wie in unserer ehemaligen Dorfstation der Bahnhofsvorsteher mit seiner Familie wohnte, den Schimmerlingweg ein Stückchen in Richtung katholische Kirche hinuntergehen, ehe wir das hinter einer Lebensbaumhecke stehende Weißziegelgebäude erreichten. Haus- und Fensterkanten zierten rote Mauersteine.
Ich glaubte, alle Fäden zu einer echten Bahnhofsatmosphäre wären abgeschnitten. Doch weit gefehlt! Als ich auf der Rückseite des neuen Hauses, auf dem Hof, angekommen war, sah ich, daß am Ende des hinter dem Hof liegenden Gartens ein mächtiger Wasserturm stand, unten eckig und oben, wo sich der Wasserkessel befand, rund und weit ausladend. Die neue Wohnung war wiederum eine Treppe hoch. Parterre eine Familie Bluhm. Er war Lokomotivführer - wie ich bald erfuhr - und leidenschaftlicher Brieftaubenzüchter. Oben aus dem Küchenfenster konnte ich den aus rötlichen quadratischen Ziegelsteinen gemauerten Wasserturm genauer betrachten. Ein Stückchen rechts von ihm bemerkte ich den Kohlenbansen der Bahn. Ein kleiner Kran hievte gerade eine schwarze Kohlenlore hoch und kippte deren Inhalt in den Tender einer dahinter stehenden, still vor sich hin qualmenden Lokomotive.
Mutter stand auf einmal hinter mir und sagte: "Und etwas weiter rechts in dem Flachbau mit den gleichen rotziegeligen Fensterkanten, das ist Papas Büro, die Bahnmeisterei I."
Wochen später, als ich mit meinem Bruder Günther Vater in seiner Bahnmeisterei besuchte, kamen wir auch an dem großen Lokschuppen vorbei, in dem eine leise vor sich hin dampfende Kohlenlok stand.
Vor dem mit riesigen Toren versehenen Gebäude befand sich eine gigantische Drehscheibe, mit der Lokomotiven in die notwendige Fahrtrichtung gebracht wurden. Ich konnte immer wieder zuschauen, wenn so eine tonnenschwere Eisenbahnlok mit ihrer Schornsteinseite mit einer Leichtigkeit von Ost nach West gedreht wurde, als wäre die ganze Angelegenheit nur einige Pfund schwer.
Gleich neben der Drehscheibe befanden sich unter einem Dach zwei umzäunte Viehbuchten mit schrägem Betonboden. Da hörte man des öfteren Schlachtschweine quieken, Schafe blöken oder possierliche Kälbchen muhen.
Aber zurück zur Bahnmeisterei. Dahinter neben dem Kohlenbunker dehnte sich ein Lagerplatz. Auf ihm waren, sauber gestapelt, ausgediente eiserne Fenstergitter, Rohre und andere Eisenteile und vor allem alte Bahnschilder mit großem L, die die Lokführer einst zum lauten Läuten aufgefordert hatten. Auf anderen Metallschildern war deutlich zu lesen: "Halt! Betreten der Gleisanlagen verboten!"
Jahre später, als ich mit Nachbars Alfred und Georg einen Unterstand hinter dem Wasserturm errichtete und eiserne Fenstergitter und Bahnschilder als Abdeckung benutzte, wunderten wir uns, daß mein Vater nichts sagte. Oder hatte er unser Sachen-weg-Schleppen gar nicht bemerkt?
Zwei Jahre nach unserem Umzug nach Mohrungen verschwanden die riesigen Roggenfelder hinter dem Bahnstellwerk und den Kohlenbansen der Reichsbahn. Neubauten schossen aus der Erde mit stahlrohrbewehrten Betonkappen, die bald unter roten Dachpfannen verschwanden. Das Jahr war vorüber, da hielten Züge mit graugrünen Wehrpflichtigen auf unserem bis dahin so friedlichen Bahnhof. Und an der Verladerampe donnerten Haubitzen mit drohenden Rohren von offenen Waggons aufs Pflaster der Rampe, und braune und schwarze Trakehner wieherten in den Viehbuchten neben der Drehscheibe. Wir Jungs bestaunten den ganzen Vorgang - nicht ahnend, wohin das führen würde - bis wir selber in grünen Röcken und Hosen steckten und einen Stahlhelm auf dem Kopf hatten. PS: Der Wasserturm soll noch stehen, doch ringsum hat sich vieles verändert. |
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