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Vor hundert Jahren entstand der Bau der "Bessel-Oberrealschule" in der Königsberger Glaserstraße. Das alte Schulhaus am Mittelanger, in dem die Schule 1865 als Löbenichtsche Bürgerschule gegründet worden war, platzte aus allen Nähten. Der stattliche Bau ist einer der wenigen, der erhalten blieb. Er wird heute von dem russischen Musikkolleg "S. Rachmaninow" genutzt. Dessen Leiter S. Stanow hatte die ehemaligen Oberrealschüler eingeladen, als Gäste an den am 10. April stattfindenden Feierlichkeiten teilzunehmen. Diese Einladung übermittelte Prof. Dr. Jörg W. Ziegenspeck, Lüneburg, der als Gastprofessor an der Königsberger Universität oft in der Pregelstadt weilt.
So nahm Prof. Ziegenspeck auch jetzt an der Feier und dem Festkonzert im alten Schulgebäude teil. Er überbrachte dabei die Grüße der in der Bundesrepublik lebenden ehemaligen Schüler, von denen leider keiner der Einladung folgen konnte, obgleich Prof. Ziegenspeck eine Mitfahrgelegenheit in seinem Wagen angeboten hatte. Das dürfte verschiedene Gründe haben, alters- und krankheitsbedingte wie auch eine zu kurzfristige Vorbereitungszeit für eine Privatreise in die Heimatstadt. Aber auch sehr persönliche Motive dürften mitsprechen.
Wie auch immer: Die Reaktion auf unsere Veröffentlichung in der "Ostdeutschen Familie" war lebhaft. Prof. Ziegenspeck erhielt Briefe und Anrufe mit wichtigen Hintergrundinformationen, aus denen er beim Festakt in seiner Grußrede schöpfen konnte. Er bedankt sich herzlich für das Vertrauen und die Kooperation: "Es waren offensichtlich gerade die letzten Schülerjahrgänge, die - bedingt durch das Kriegsgeschehen und den Verlust der Vaterstadt - die Erinnerungsarbeit bis heute leisteten und leisten und zahlreiche Daten und Fakten sicherten, aus denen man nun ersehen kann, was einst geschah, was gedacht und wie gehandelt und in welcher Weise die persönliche Verwurzelung erlebt und verarbeitet wurde. Ich sah meinen Auftrag auch darin, das Andenken an die Vergangenheit wachzu- halten, gleichzeitig aber auch einen Beitrag zur Verständigung zu leisten."
Der 1941 in Königsberg geborene Philologe, der am Institut für Erlebnispädagogik an der Universität Lüneburg tätig ist, hatte aus den ihm übermittelten Unterlagen eine Chronik zusammengestellt und gebunden. Mit Hilfe einer Übersetzerin wurden die wesentlichen Stationen der Schulgeschichte abge-
schritten. Die Schulleitung hatte auf mehreren Tafeln dokumetiert, was die "Bessel-Schule" einst war und wer sie geformt hat. Professor Ziegenspeck hatte zwei Stelltafeln mitgebracht, so daß sich diese optischen Dokumentationen sehr gut ergänzten.
Für Professor Dr. Ziegenspeck war es nach seinen Worten eine besondere Ehre, die Grüße der ehemaligen Bessel-Schüler zu überbringen. Mit einigen hatte er telefoniert, mit anderen korrespondiert, so daß ihm die Vergangenheit erschlossen wurde, die er auf der Feier in die Gegenwart transferieren konnte. Aber es blieb nicht nur bei Worten: Der deutsche Gast konnte dem russischen Musikkolleg auch ein Geldgeschenk überreichen, das ihm von ehemaligen Bessel-Schülern mitgegeben wurde. Es war ein stolzer Betrag von 850 Euro zusammengekommen. Die Freude über diese tatkräftige Unterstützung war sehr, sehr groß. Das Geld wird zur Anschaffung von Instrumenten und Noten dienen.
Der Festakt, an dem auch Vertreter russischer Behörden und Institutionen teilnahmen, fand viel Beachtung, es gab mehrere Fernseh-
interviews, ein Videofilm wurde gedreht. Die Feier wurde vor allem durch Schülerinnen und Schüler des Musikkollegs gestaltet. Die musikalischen Leistungen waren beachtlich, das Programm weit gespannt, das Spektrum reichte von der Klassik bis zur Gegenwart, auch die Folklore wurde nicht ausgespart. Und für den deutschen Gast - und damit für die von ihm vertretenen ehemaligen Schüler - wurde vom Chor das Ostdeutschlandlied gesungen!
Wenn auch beim Königsberg-Aufenthalt von Prof. Ziegenspeck, bei dem noch Konferenzen, Planungsgespräche und die Vorbereitung eines Kongresses im Ozean-Museum auf dem Programm standen, alles in harmonischem Einklang verlief, so holte ihn leider bei der Ausreise die rauhe Wirklichkeit ein. Auf der Anmeldung zum Grenzübergang fehlte ein Stempel, jener der Universität zählte nicht, das Dokument wurde nicht einmal gelesen, die Unvollständigkeit war Grund genug, alles zu ignorieren. Es ergaben sich acht Stunden Wartezeit in der langen Schlange von polnischen Fahrzeugen, die den kleinen Grenzverkehr markieren: Man lebt vom "Handel" mit Benzin, Zigaretten und Schnaps. Das System zeigte sich an dieser Stelle von seiner menschenverachtenden Seite! R. G.
Prof. Dr. Jörg W. Ziegenspeck: Er übermittelte die Grüße der ehemaligen Schüler Foto: Universität Lüneburg |
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