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Gelungen, da suggestiv, ist schon der Titel des Gedichtbands "Wie es der Werwolf befahl - Erlebtes und Erdachtes aus dem beschädigten Leben" von Lothar Schewe. So erkennt man darin die Verfremdung jener berühmten Grabschrift des Leonidas, der bei den Thermophylen fiel: "Wanderer, kommst Du nach Sparta, so melde, Du habest uns hier liegen gesehen, Wie das Gesetz es befahl." Der Sinnzusammenhang des Ganzen steht in krassem Gegensatz zum Untertitel: Es geht hier nicht um den ruhmreichen Heldentod der freiheitsliebenden Hellenen oder gar um den der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen. Es geht vielmehr um die moralische Agonie eines Überlebenden, Jahrgang 1929, ideologisch und militärisch in seiner Jugend mißbraucht, aus seiner Danziger Heimat vertrieben. Wie es der Werwolf befahl. Und eben nicht das Gesetz.
Die seelische Agonie des Überlebenden bleibt. Hier heilt die Zeit keine Wunden, sondern chronifiziert nur. Selbst der Abstand von 50 Jahren, nach denen sich der Autor erst zu einer "Heimweh"-Reise entschloß, ändert nichts daran: "Die alte Stadt, von den Polen liebevoll und kenntnisreich restauriert, wirkte auf mich, den Heimwehtouristen, zwiespältig. Gewiß, ich bewunderte wieder vom anderen Ufer der Mottlau aus das einzigartige Stadtpanorama mit den Toren und Türmen; das festliche städtebauliche Ensemble des Marktplatzes. Aber etwas fehlte. Die Menschen, die den eigenen Weg in jenen fernen frühen Jahren begleitet hatten. Ich selbst vermißte mich in diesem Bild. Ja, es war ein Bild, man stand bewundernd davor, schmerzlich bewegt, aber man stand davor. Wie in einem Museum, in einer Galerie."
Indessen sind Schewes Gedichte nicht nur Vergangenheitsbewältigung, nicht nur nach rückwärts gewandt, nicht nur für die Kriegs- und Vertriebenengeneration von Interesse. Sicherlich trug das Leben des Autors durch die Erlebnisse und Folgen des Dritten Reiches tiefe Schäden davon. Beschädigt wurde sein Leben aber auch in der Zeit danach. Die Parkinsonsche Krankheit, unter der er seit 1986 leidet, bildet ein weiteres Leitmotiv der Sammlung.
Die lyrische Kunst Schewes besteht darin, zeitlich weit auseinanderliegende Erinnerungen, Traumatisierungen, Schädigungen, Vergangenheit und Gegenwart, Reiseeindrücke und Kindheitserlebnisse übereinanderzublenden. Diese Technik entspricht dem au- thentischen, assoziativen Denken. Aber Schewe läßt sich nicht in epischer Breite über seine Erlebnisse aus. Er schlägt den weitaus mühseligeren Weg der Kürzung, Zuspitzung, Verdichtung und Komprimierung ein. In geradezu foto- graphischer Exaktheit gewinnen einzelne Eindrücke Kontur und entwickeln ein geistiges Eigenleben. Sie verbinden sich mit der ständig bohrenden Melancholie, mit ihren ständigen Einflüsterungen vom Fluß und vom Flug der Zeit, der Werte, des Alterns, ja des Lebens überhaupt.
Demgegenüber wird die Frage nach der äußeren Form unerheblich. Wer die Form der Stanze, der Terzine oder des Sonettes kennt, wird sie auch hier wiedererkennen. Wenn ein Sonettkranz mit dem Titel "Der Mensch in Sein und Zeit, Martin Heidegger zum Gedenken" als einziger Teil der Sammlung problematisch erscheint, dann nicht aufgrund formaler Mängel.
Schwerer als die Tatsache, daß etwa das Sonett V ein Torso geblieben ist, erscheint die Überfrachtung mit Philosophie und Geistesgeschichte. Mag auch die Lyrik ein zur Leidenschaft gewordenes Denken genannt werden, so zielt die Poesie doch immer auf das Konkrete und die Philosophie auf das Abstrakte.
Glücklicherweise aber überwiegt eine sehr persönliche Art der Wahrnehmung und Darstellung. Die Gedichte Schewes leben von der Freude und dem Leiden an der Moderne. Sie bestechen durch die Knappheit ihres Ausdrucks und manche geschliffene Formulierung. Vor allem aber sind sie ehrlich, symptomatisch und stellvertretend für eine ganz besondere Generation. Wie Schewe haben viele erlebt, gelitten und bekannt. Und leidenschaftlich nach menschlicher Würde, nach geistigem Wiederaufbau und der Weitergabe von kulturellen Werten gestrebt. Frank Stückemann
Lothar Schewe: "Wie es der Werwolf befahl. Erlebtes und Erdachtes aus dem beschädigten Leben", Edition Anthrazit, Frankfurt 2003, 46 Seiten, 6,90 Euro |
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