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Das klägliche Scheitern der bis dato regierenden „Wahlak-tion der Solidarnosc - Die Rechten“ bei den polnischen Wahlen vom 23. September verdeutlichte, wie sehr der Mythos der einstigen Gewerkschaftsopposition verblaßt ist.
Oder anders gesagt: Der nach 1989 geführte tagespolitische Kampf um das Erbe der im August 1980 gegründeten Gewerkschaft scheint nach dem Debakel ihrer einflußreichsten Sachwalter beendet. Offenbar hat sich hier ein historischer Mythos im rauhen Geschäft der Politik rasch abgenutzt.
Der am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt arbeitende Historiker und Slawist Andreas Lawaty nennt in dem Aufsatz „Der Gründungsmythos“ in der neuesten Ausgabe von Kafka - Zeitschrift für Mitteleuropa als Erklärung die „Unklarheit und Unbestimmtheit des Solidaritätsmythos“, mit der eine Beschränkung auf individuelle Erinnerungen und eine große Manipulierbarkeit einhergingen.
Für den 1953 in Beuthen geborenen Lawaty läßt sich die Gewerkschaft als „solidarische“, jedoch nicht „uniforme“ Bewegung charakterisieren, die allen offen gestanden habe, „die ihr aus Überzeugung beitreten wollten“, Parteimitglieder inbegriffen. Diese Vielgestaltigkeit beeinträchtigte das Profil und machte die Solidarnosc anfällig für Unterwanderungen, verlieh ihr andererseits aber die Durchlagskraft einer Massenbewegung mit zehn Millionen Mitgliedern.
Die Gewerkschaft habe laut Lawaty als „Scharnierstück“ Bedeutung erlangt, als „Brücke von einer zwischen Resignation, Anpassung und Widerstand schwankenden unfreien Gesellschaft und Nation in einen demokratischen Rechtsstaat und in eine freie Marktwirtschaft“. Tugenden wie Verantwortungsgefühl und Mut kommen einem in den Sinn und natürlich die Parallele zum Verblassen des Erbes der Bürgerbewegung der DDR.
Zu heterogen waren Träger und Erscheinungsbild beider Bewegungen, um sich als idealer Stoff zur Mythenbildung zu eignen. Auch kam es zu einer von den Medien gestützten Wiederauferstehung der radikalen Linken, der an der Erinnerungspflege in bezug auf die Wende und ihre Vorkämpfer nicht gelegen war - in Deutschland die von SPD und Grünen zunehmend rehabilitierte SED-Nachfolgepartei PDS und in Polen die Postkommunisten, die heute wieder an der Macht sind.
Lawaty fügt noch eine andere Erklärung zum Scheitern des Solidarnosc-Erbes als „Gründungsmythos“ der Republik Polen hinzu: „Wenn 1989 nicht eine allgemeine Euphorie und eine die ganze Gesellschaft einigende Welle der Solidarität auslöste, dann lag das vielleicht auch daran, daß die Wende nur die Forderungen endgültig umzusetzen schien, die die Solidarität bereits 1980/81 gestellt hatte. Außerdem war die Roßkur der liberalen Wirtschaftsreform, die der neue, demokratisch legitimierte Staat paradoxerweise von oben einführen mußte, nicht dazu angetan, Euphorie zu wecken und die Dichotomie zwischen Gesellschaft (vor allem den Verlierern der Reform) und dem Staat ganz zu überwinden.“
Manche Solidarnosc-Aktivisten zeigten sich tief enttäuscht über die „Ungerechtigkeit“ der Entwicklung. Typisch ist die von Lawaty zitierte Äußerung Krzysztof Zanussis aus dem Jahr 1996: „Alle wurden kollektiv unschuldig gesprochen (...), weswegen keine klare Unterscheidung zwischen dem, was niederträchtig und verbrecherisch, und dem, was normal und menschlich ist, vollzogen wurde.“
Immerhin hat sich in Deutschland eine Mythologisierung des Mauerfalls als der ersten „erfolgreichen und friedlichen Revolution der deutschen Geschichte“ eingestellt. Ähnliches könnte auch für das wichtigste Erbe der Gewerkschaft Solidarität gelten: Nach generationenlangen vergeblichen Aufständen gelang es den Polen, auf friedlichem Weg die Befreiung vom Kommunismus an vorderster Stelle mit zu erkämpfen. Denn, wie Lawaty als Fazit festhält: „Das 1989 geborene, unabhängige und demokratische Polen wurde genau neun Jahre zuvor, im August 1980, gezeugt.“
Sollte die gegenwärtige Transformation schließlich gelingen, so die Hoffnung des Autors, „und man sich eines Tages (...) ein wenig ausruhen (...) von der Rastlosigkeit des historischen Wandels - vielleicht wird dann die Zeit gekommen sein, wo man sich dieser ersten ‚Solidarität‘ (...) kritisch integrierend und konstruktiv mythisierend erinnert. Und man wird in einem Museum der Solidarität, in Kursen für politische Bildung, in der Schule, vielleicht sogar in Kunst, Literatur und Wissenschaft sich das eine oder andere ihrer Wunder, ihrer Gestaltungskraft zum Thema machen.“
Kafka - Zeitschrift für Mitteleuropa, Heft 3/2001 über „Brüche und Zäsuren, Goethe-Institut Inter Nationes e. V., Vertrieb, Kennedyallee 91-103, 53175 Bonn
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