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Konkret wird den Chinesen vorgeworfen, daß sie in einem Zeitraum von rund 20 Jahren gezielt Atomwaffengeheimnisse gestohlen haben sollen, die der Volksrepublik entscheidend bei der Entwicklung moderner Nuklearsprengköpfe und Kampfflugzeuge sowie mobiler ballistischer Raketen geholfen hätten. Darüber hinaus sollen die Chinesen auch in den Besitz über Pläne zum Bau einer Neutronenbombe gelangt sein.
Während die Republikaner, insbesondere in Gestalt von Präsidentschaftskandidat George W. Bush (Sohn des Clinton-Vorgängers), Konsequenzen bis hin zur Verweigerung der Meistbegünstigung im Handel mit den USA forderten, bemühte sich die Regierung, die Affäre herunterzuspielen. Clintons Sprecher Lockhardt erklärte, es gebe keine eindeutigen Beweise dafür, daß die Chinesen im großen Stil in den USA Atomspion age betrieben hätten. Auch in deutschen Kreisen will man von Konsequenzen gegen China nichts wissen. So sprach beispielsweise die "FAZ" in einem Kommentar am 26. Mai von "wenig fundierten Bedrohungsszenarien" im Zusammenhang mit der Spionageaffäre.
In der Tat stellt zwar selbst der Cox-Bericht fest, daß es mindestens 15 Jahre dauern werde, bis die Chinesen ihre vergleichsweise geringe Atomstreitmacht modernisiert haben werden. Immerhin aber konstatieren Fachleute, daß mit Hilfe der Kenntnisse, die sich die Chinesen an amerikanischen Universitäten und vor allem in den Labors von Los Alamos (Neu Mexiko) angeeignet haben, bis zu hundert strategische Interkontinentalraketen gebaut werden könnten. Cox war sich dessen wohl bewußt, als er zu Protokoll gab, daß die chinesischen Versuche, sich amerikanische Technologien anzueignen, von einer derartigen Tragweite seien, daß sie die volle Aufmerksamkeit von Kongreß und Repräsentantenhaus verdienten ("Associated Press", 16. Mai).
Was also ist von dieser Spionageaffäre zu halten? Haben die USA die Angelegenheit tatsächlich nur aufgebauscht, um von dem Bombardement auf die chinesische Botschaft in Belgrad abzulenken, beziehungsweise um "antichinesische Stimmungsmache" zu betreiben, wie es die Chinesen behauptet haben? Dafür spricht, daß der Hauptverdächtige, der in Los Alamos tätige Wissenschaftler Wen Ho Lee, derweil aus seiner Stellung entlassen worden ist. Die Indizien reichen aber nicht aus, um ihn zu verhaften.
Dieser Umstand sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß sich China und die USA mehr und mehr zu globalen Konkurrenten entwickeln. Die beiden amerikanischen Asienexperten Richard Bernstein und Ross H. Munro vertreten in ihrem Buch "Der heraufziehende Konflikt mit China" ("The coming Conflict with China", New York 1997) mit kaum widerlegbaren Argumenten die These, daß der Gegensatz zwischen China und den USA der erste massive Konflikt des 21. Jahrhunderts sein werde. Die Rivalität zwischen beiden Supermächten werde sich auf alle relevanten Wettbewerbsbereiche erstrecken: militärische Stärke, wirtschaftliche Stabilität, Vorherrschaft über andere Nationen sowie auf das, was der "Westen" als sein ureigenstes Refugium betrachtet: internationale Normen und Werte.
Bernstein und Munro sehen einen harten und im Grunde nicht aufzulösenden Interessengegensatz zwischen den USA und China. Washington war innerhalb der vergangenen hundert Jahre bemüht, die Vorherrschaft eines ortsansässigen Staates in der asiatischen Region zu verhindern. Genau nach dieser Vorherrschaftsrolle strebten jetzt die Chinesen, weshalb die Interessen der USA und Chinas zwangsläufig kollidieren, so Bernstein und Munro.
Weiter argumentieren die Autoren, daß Chinas enge Kooperation mit Rußland, seine technologische und politische Unterstützung für islamische Länder in Nordafrika und Zentralasien und seine steigende Dominanz in Ostasien das Reich der Mitte mehr und mehr zum Zentrum eines locker geknüpften Netzwerkes von Staaten werden lasse, deren politische Ziele denen der USA zuwiderliefen. Diese Staaten verbinde darüber hinaus die Ablehnung einer weltumspannenden "westlichen" Dominanz. Bernstein und Munro kommen vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, daß China nicht länger als strategischer Freund betrachtet werden könne, sondern als Langzeitfeind der USA.
Soweit die antichinesische Interessenlage der USA. Welche Motive aber haben die Chinesen nun für ihren zunehmend antiamerikanischen Kurs, den selbst die engagiertesten Befürworter einer amerikanisch-chinesischen Kooperation einräumen müssen? So gab beispielsweise der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger in seinen Erinnerungen bereits 1980 zu Protokoll: "Sobald China stark genug wird, um sich allein zu behaupten, könnte es uns fallenlassen. Etwas später könnte es sich sogar gegen uns wenden, sofern seine Interessen dies erfordern." Der Zeitpunkt hierfür scheint in nicht mehr allzu weiter Ferne erreicht zu sein.
Über die Motive der antiamerikanischen Kurswende der chinesischen Spitzenpolitiker muß kaum gerätselt werden. Bernstein und Munro sprechen in diesem Zusammenhang eine Konferenz zahlreicher Funktionäre der KP Chinas aus allen Provinzen des Landes in Peking 1994 an. Im Laufe dieses Treffens seien die USA zum wichtigsten Gegner Chinas erklärt worden. Vordringliches Ziel Chinas müsse es sein, eine Front gegen die Vorherrschaftsbestrebungen der USA zu errichten. Ding Guangen, einer der einflußreichsten Parteiideologen, erklärte im Rahmen dieser Zusammenkunft: Die gegen China gerichtete Politik der USA verfolge das Ziel, Chinas Sozialismus zurückzudrängen und das Land zu einem Vasallenstaat herabzuwürdigen. Die USA, so Guangen weiter, mischten sich unter dem Vorwand der Menschenrechte in die innenpolitischen Angelegenheiten der Volksrepublik ein. Diese Handlungsweise stufte er wörtlich als "subversiv" ein. Und schließlich: Die Vereinigten Staaten unterstützten feindlich gesinnte Kräfte und Elemente in China, damit diese aufrührerische Aktivitäten unternähmen.
Ähnlich ist der Tenor eines Berichts über eine Tagung der führenden Experten für Auslandsfragen und Militärpolitik am 25. November 1993. Die Hongkonger Zeitschrift "Zheng Ming" veröffentlichte am 1. Januar 1994 einen detaillierten Bericht über diese Tagung, der mit der an Deutlichkeit nicht mehr zu überbietenden Feststellung eingeleitet wurde: "Wen betrachtet die Kommunistische Partei Chinas als ihren internationalen Erbfeind? Die USA."
Ähnlich drastisch wird der antiamerikanische Kurs der chinesischen Politik in dem Buch "Kann die chinesische Armee den nächsten Krieg gewinnen?" dokumentiert. Die bereits genannten Autoren Bernstein und Munro weisen darauf hin, daß dieses Buch zunächst als internes, nur hochrangigen Funktionären zugängliches Dokument veröffentlicht worden sei. Durch ein Versehen sei aber auch eine Pekinger Buchhandlung beliefert worden, wo ein Amerikaner ein Exemplar gekauft habe. Diesem sei es zu verdanken, daß man sich ein besseres Bild über die chinesischen Absichten machen könne.
Die chinesischen Autoren dieses Buches warnen davor, daß nach dem Jahr 2000 die asiatische Pazifikregion voraussichtlich mehr und mehr zu einem strategischen Schwerpunkt der USA werden würde. China müsse deshalb handeln, solange die USA an anderen Schauplätzen gebunden seien. Wörtlich wird festgestellt: "Mit anderen Worten, das Hauptgewicht militärischer Konfrontationen am Ende dieses Jahrhunderts und dem Beginn des folgenden wird weltweit auf regionalen Kriegen liegen. Wer in der Übergangszeit (die aus chinesischer Sicht Anfang des nächsten Jahrhunderts abläuft, d. V.) initiativ wird, wird in der zukünftigen militärischen Ordnung eine entscheidende Position einnehmen."
Und: "Aufgrund ihrer jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Interessen in der asiatischen Pazifikregion werden sich diese beiden Staaten in ständiger Konfrontation miteinander befinden."
Wie die Initiativen Chinas aussehen könnten, darüber legt das Anfang Juni 1996 erschienene Buch "China kann Nein sagen" Zeugnis ab. Dieses Buch wurde von einer Gruppe unbekannter junger chinesischer Intellektueller geschrieben. Es könne, so Bernstein und Munro, davon ausgegangen werden, daß das Erscheinen dieses Buches von höchster Stelle gewünscht wurde. Die unbekannten chinesischen Verfasser fordern konkret u. a. folgende Maßnahmen gegen die USA:
den kulturellen und wirtschaftlichen Imperialismus der USA zurückzudrängen;
eine antiamerikanische Allianz mit Rußland einzugehen;
Weizen und andere Produkte der USA zu boykottieren;
die Erklärung abzugeben, daß China auf seinen Meistbegünstigungsstatus verzichte;
amerikanische Produkte mit hohen Einfuhrzöllen zu belegen.
In den offiziellen Verlautbarungen der chinesischen Politik ist von antiamerikanischen Ressentiments freilich nichts zu spüren. Viele westliche Beobachter sind deshalb geneigt, die laufende Spionageaffäre in ihrer Bedeutung niedrig zu hängen. Viele chinesische Offiziere und Politiker sind heute noch von den Thesen des Militärstrategen Sun Zi (etwa drittes Jahrhundert v. Chr.) beeinflußt, der in seinem Buch "Die Kunst des Krieges" folgende Gleichung aufstellte: "Ist man zu etwas fähig, muß man Unfähigkeit vorschützen. Ist man aktiv, muß man Inaktivität vorschützen."
Entsprechend fielen die chinesischen Reaktionen auf die Spionagevorwürfe der USA aus. Da war die Rede davon, daß diese Vorwürfe Wahnideen seien bzw. davon, daß die Amerikaner in den Kategorien des Kalten Krieges dächten und große Anstrengungen unternähmen, um Geschichten über das Ausspionieren amerikanischer Nukleartechnologie zu erfinden. Ihrem Ziel, der Entwicklung von kleineren und zuverlässigeren Atomsprengköpfen, sind die Chinesen jedenfalls einen gewaltigen Schritt nähergekommen. Die Frage ist, warum sich die USA dennoch so moderat gegenüber China verhalten.
Eine Antwort liefern die bereits öfter genannten Autoren Bernstein und Munro mit ihrem Verweis auf den wachsenden Einfluß der "Chinalobby" in den USA. Es gibt inzwischen eine Reihe von namhaften amerikanischen Politikern, von denen der ehemalige Außenminister Kissinger nur der bekannteste ist, die sich als Ratgeber oder Vermittler für in China tätige US-Unternehmen eine goldene Nase verdienen. Kissinger selbst habe, so die beiden Autoren, ein Unternehmen gegründet (Kissinger Associates), das eine "Vielzahl amerikanischer Gesellschaften" vertrete, die "mit der Volksrepublik China Geschäfte machen" wollten und dem ehemaligen Außenminister für seine "beispiellosen Kontakte" zu den Mächtigsten Chinas zum Teil bedeutende Beträge zahlten.
Es kann vor diesem Hintergrund nicht weiter verwundern, daß sich Kissinger bei der Geißelung des Massakers auf dem "Platz des himmlischen Friedens" nicht nur zurückhält, sondern sogar um Verständnis für das Verhalten der chinesischen Staatsführung vor zehn Jahren äußerte. Eine allzu vehemente Verdammung der "Tiananmen"-Greuel hätte seine guten Kontakte zur höchsten chinesischen Führungsschicht mit aller Wahrscheinlichkeit verschlechtert, was sich geschäftsschädigend ausgewirkt hätte. Kissinger macht sich insbesondere für einen Technologietransfer mit der Volksrepublik stark, von dem er als Wirtschaftsberater entsprechend profitiert.
Die Chinesen wissen diese Wirtschaftsinteressen in ihrem Sinne zu nutzen. Wer sich als amerikanischer Politiker kritisch gegenüber China äußert, verliert bei Chinas Mächtigen schnell an Einfluß. Es sieht auch vor dem Hintergrund der laufenden Spionageaffäre so aus, als ob diese wirtschaftlichen Interessen den strategischen Problemhorizont in den Hintergrund drängen. Genau diesen Schluß läßt eine von Bernstein und Munro kolportierte Stimme aus Senatskreisen zu: "Eine vernünftige Debatte über die amerikanische Chinapolitik ist ausgeschlossen, da nahezu das gesamte Establishment an einer Beibehaltung des Status quo interessiert ist."
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