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Für die Chinesen hat das Schriftzeichen für Krise noch eine weitere Bedeutung. Es steht auch für Chance. Davon könnten die Europäer lernen. Ihre weitgehend hausgemachte, ja in Brüssel und den Kanzleien der Regierungen produzierte Krise ist ein Weckruf, die Chancen Europas zu sehen und wahrzunehmen. Man müßte nur etwas nachdenken und einmal über den Tellerrand der Bürokratie hinaussehen. Wenn es nicht geschieht, bleibt es bei der Krise. Wohin diese führen kann, auch dafür lohnt das Nachdenken. Vier Anmerkungen könnten dazu hilfreich sein.
Erstens: In einem Interview nach dem Nein in Frankreich hat der ehemalige Außenminister Frankreichs und Deutschland-Kenner Jean François-Poncet den schlichten Satz gesagt: Es gibt zu Europa keine Alternative. In der Tat, das ist wie mit dem Wetter. Auch dazu gibt es keine Alternative. Es kann gut sein, es kann schlecht sein. Die schlechteste Variante hat der verstorbene französische Präsident Mitterrand in seiner letzten Rede vor dem Europa-Parlament in Straßburg wie ein Vermächtnis beschworen, als er sagte: "Nationalismus bedeutet Krieg".
Soweit ist Europa noch lange nicht. Aber es regnet, um im Bild zu bleiben. Und es ist nicht abzusehen, wann der Regen aufhört. Nur: Man sollte den Regen nicht mit einer Renaissance des Nationalismus verwechseln. Davor hat auch der historisch versierte François-Poncet gewarnt. Wenn jedoch das politische Establishment die Bodenhaftung nicht wiedergewinnt, also der Türkei eine realistische, das heißt vor allem ehrliche Perspektive eröffnet, die eine Vollmitgliedschaft in der EU ausschließt, dann kann der Nieselregen von heute schon morgen zum nationalistischen Sturm werden. Wer die Türkei aufnehmen will, der beschwört den Nationalismus herauf.
Und selbst ohne den Türkei-Beitritt ist die Gefahr nicht gebannt. Schon Adenauer gab dem ersten deutschen EU-Botschafter nach Brüssel das Wort mit auf den Weg: "Sorgen Sie dafür, daß es schnell geht, denn in 30 Jahren kann alles wieder ganz anders sein." Eine Denkpause jetzt, so wie die Briten es verlangen, oder das Verhaken in Finanzfragen allein wird diesen Trend kaum aufhalten, erst recht nicht, wenn die europaskeptischen Briten die Ratspräsidentschaft übernehmen. Nicht für alle Briten, aber wahrscheinlich doch für die Mehrheit von ihnen gilt, was der deutsche Frühromatiker Novalis so schön sagte: "Die Briten sind jeder für sich eine Insel". Sie, die in der ältesten Demokratie der Welt schon immer ohne Verfassung lebten, werden nicht verstehen können, warum Europa ein solches Dokument braucht. Ihre Absage an das Referendum legt die Verfassungsdiskussion auf Eis. "Constitution on the rocks", werden die "Coolen" unter ihnen das nennen und das Whiskey-Glas leicht rythmisch bewegen.
Zweitens: Europa muß auch gegenüber Amerika wieder ehrlicher und vor allem freundschaftlicher werden. Auch dazu gibt es keine Alternative, und zwar schon deshalb, weil der transatlantischen Gemeinschaft im radikalen Islam auch ein gemeinsamer Gegner erwachsen ist. Zur Ehrlichkeit gehört sicher auch ein Schuß Rivalität und ab und an ein kritisches Wort. Aber Europa kann von Amerika auch lernen. Der immer noch unterschätzte Staatsdenker und Diplomat, der Franzose Alexis de Tocqueville, bezeichnete die amerikanische Staatsform als Religion mit demokratischen Zügen. "Von Anfang an waren Politik und Religion einig, und sie haben seither nicht aufgehört, es zu sein", schrieb der große Franzose. Das muß man so nicht übernehmen. Aber wir sollten die Verbindung, ja die gegenseitige Verbundenheit zwischen einem freien Rechtsstaat und der Religion sehen, die Tocqueville so ausdrückte: "Nie war ich überzeugter als heute, daß nur die Freiheit und die Religion in einer gemeinsamen Bemühung die Menschen aus dem Sumpf herausziehen können, in den die Demokratie sie stößt, sobald eine dieser Stützen ihnen fehlt." Wenn der Freiheit die Religion fehlt, endet sie in Gleichmacherei, Beliebigkeit und nicht selten in einer ebenso gnadenlosen wie sinnlosen Intoleranz, siehe das Antidiskriminierungsgesetz oder den Fall Buttiglione. Wenn der Religion die Freiheit fehlt, endet sie ebenfalls in Diktatur.
Die Wahl von Benedikt XVI. ist ein Zeichen der Hoffnung in dem Sinn, daß in der Politik Europas nicht nur formal, sondern auch inhaltlich der Bezug zu Gott wieder Beachtung findet. Das ist keine Strukturfrage, sondern eine Frage des persönlichen Verhältnisses mit Gott, etwa so wie Adenauer, Schuhmann und de Gasperi es lebten, nicht als Bekenntnis zu einem Menschenbild, sondern als persönliche Zwiesprache mit Gott. Das kann man freilich nicht von einem Politiker verlangen, es bleibt im Entscheidungsraum der persönlichen Freiheit. Aber wenn es fehlt, dann flacht die Politik zum wertlosen, relativistischen Bürokratismus ab, der nur noch von der Expansion der Märkte lebt. Genau das ist in Brüssel zu spüren.
Drittens: Die europäische Elite - fast könnte man schon sagen Kaste - muß sich auch dringend einem anderen Problem zuwenden, den Folgen des demographischen Defizits. Dieses Thema wird gerne verdrängt, von Politikern und Medienleuten gleichermaßen. Aber das Zeitfenster für Lösungen schließt sich, das Problem ist gar nicht dramatisch genug einzuschätzen. Der Oxforder Historiker Niall Ferguson sagt es so: "Der drastische Bevölkerungsschwund in Europa ist die größte langanhaltende Reduzierung der europäischen Bevölkerung seit der Pest." In spätestens acht, neun Jahren, wenn die letzte geburtenstarke Generation in Rente geht, wird uns der Sozialstaat alter Prägung um die Ohren fliegen. Auch die Hoffnungen auf mehr Wirtschaftswachstum sind nicht viel mehr als bunte Illusionen. Ernstzunehmende, also subventionsunabhängige und nicht in politische Kommissionen eingebundene wirtschaftswissenschaftliche Institute forschen schon heute am "demographic gap", an der aufgrund des demographischen Niedergangs und der Alterung sich auftuenden Lücke zwischen Wirtschaftswachstum und halbwegs normalen Geburtenzahlen. Ohne Kinder wird es kein nachhaltiges Wachstum geben.
Es ist wahr: Europa blutet aus, und die Menschen ahnen es. Auch deshalb sind sie enttäuscht von der Politik, weil diese der Familie keine Leistungsgerechtigkeit zukommen läßt - die Erziehung und Familienarbeit ist eine Leistung, die gesellschaftlich notwendig ist. Wie notwendig, das hat schon Montesquieu in einer Kausalkette dargestellt, übrigens in einem Kapitel über den Niedergang des römischen Reiches. Er schrieb: Ohne Familie keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit kein Sinn für Freiheit. Wer nur auf Betreuung setzt und der Familie nicht den Freiraum verschafft, damit sie auch erziehen kann - dafür braucht man vor allem Zeit -, der setzt nicht nur die Familie aufs Spiel, sondern auch die Freiheitsfähigkeit der Gesellschaft, mithin die Demokratiefähigkeit. Das können die Europäer nicht riskieren, auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht.
Familie und freie Wirtschaft bedingen einander. Hayek hat das einmal so formuliert: Die zwei wichtigsten Institutionen einer freien Gesellschaft sind erstens das private Eigentum und zweitens die Familie. Wer gesellschaftliche Strukturreformen angehen will, muß bei der Familie anfangen. Sonst kuriert man an Symptomen, und das reicht längst nicht mehr. Denn ohne Familie geht Europa zugrunde, mit und ohne Verfassungstext.
Viertens, der Gottesbezug: In der nun zweimal abgelehnten und zehnmal angenommenen Verfassung ist die Charta der Grundrechte enthalten, und in ihr ist auch von der unantastbaren Würde des Menschen die Rede. Warum ist sie unantastbar? Nicht deshalb ist die Würde des Menschen unantastbar, schreibt Guardini, "weil er lebt und daher ein Recht auf Leben hat. Ein solches Recht hätte auch das Tier, denn das lebt ebenfalls... Sondern das Leben des Menschen darf nicht angetastet werden, weil er Person ist."
Dann definiert Guardini diesen Begriff: "Person ist die Fähigkeit zum Selbstbesitz und zur Selbst-Verantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung. Sie ist nicht psychologischer, sondern existentieller Natur... Die Achtung vor dem Menschen als Person gehört zu den Forderungen, die nicht diskutiert werden dürfen. Die Würde, aber auch die Wohlfahrt, ja endgültigerweise der Bestand der Menschheit hängen davon ab, daß das nicht geschehe. Wird sie, die Würde, in Frage gestellt, gleitet alles in die Barbarei."
Josef Pieper geht noch einen Schritt weiter und tiefer. In seinem Traktat über die Gerechtigkeit sagt auch er, "weil der Mensch Person ist, das heißt ein geistiges, in sich ganzes, für sich und auf sich hin und um seiner eigenen Vollkommenheit willen existierendes Wesen, darum steht dem Menschen etwas zu, darum hat er ein suum, ein Recht, gegen jedermann vertretbar, jeden Partner verpflichtend, mindestens zur Nicht-Verletzung". Pieper fährt fort: "Der Mensch hat deshalb unabdingbare Rechte, weil er durch göttliche, das heißt aller menschlichen Diskussion entrückte Setzung als Person geschaffen ist. Dem Menschen steht letzten Grundes deswegen etwas unabdingbar zu, weil er creatura ist, und als creatura hat der Mensch die unbedingte Verpflichtung, dem anderen das ihm Zustehende zu geben. Diesen Sachverhalt hat Kant so ausgesprochen: Wir haben einen heiligen Regierer, und das, was er den Menschen als heilig gegeben hat, ist das Recht der Menschen." Also sei der Schöpfer selbst in seiner Absolutheit der letzte Grund für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Und weiter, um mit Karl Kraus zu sprechen: Wer die Würde des Menschen als unantastbar anerkennt, der erkennt auch Gott als den Schöpfer und Garanten dieser Würde an, auch wenn er das so nicht sagt oder nicht sagen zu können glaubt. Freilich, würde er diese Wirklichkeit auch leben, zum Beispiel beim Lebensschutz, dann wäre schon eine Menge erreicht. Es fehlt, wie Benedikt XVI. noch als Kardinal Ratzinger in einem Aufsatz zu Europa bemerkte, das "moralische Bewußtsein", das einem Gottesbezug auch Realität verleihen würde. So wie Europa heute daherkommt, mit Euthanasie, Abtreibung, embryonaler Stammzellforschung, Aufwertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, wäre ein Gottesbezug pure Heuchelei. Trotzdem sollte man ihn natürlich fordern, um gerade diese Heuchelei zu demaskieren.
Dieses Beispiel zeigt auch das heuchlerische Kurzdenken der Schröders, Blairs und Chiracs und vieler anderer auf. Sie denken nur in Schlagworten und Schlagzeilen. Aber es gehört zur Seele Europas, daß man dem Ethos und Logos auch mal zwei oder drei Gedankengänge hintereinander widmet und sich nicht nur auf das Pathos verlegt. Nur, das würde mit sich bringen, daß die Politik sich zu einem Europa der Werte, auch der Grundwerte wie Religion, Familie, Freiheit bekennt. Diese Werte wandeln sich nicht, sie sind. Es wandelt sich nur das Bekenntnis zu ihnen.
Europa wird, wenn es die Chance der Krise nutzen will, den Mut aufbringen müssen, das Bekenntnis zu diesen drei Werten, die zur Seele Europas gehören, wieder laut und deutlich zu formulieren und zu wagen. Sonst versinkt es in der Krise. Oder, um es mit Ratzinger zu sagen: "Das Schicksal einer Gesellschaft hängt immer wieder von schöpferischen Minderheiten ab. Die gläubigen Christen sollten sich als eine solche schöpferische Minderheit verstehen und dazu beitragen, daß Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient".
Symbol des Rechts oder der Ohnmacht?: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte soll auch auf supranationaler Ebene die Unantastbarkeit der Würde des Menschen garantieren - ein hohes Ziel, das vielleicht gerade durch die Krise der EU wieder stärker ins Bewußtsein der Europäer rücken könnte. |
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