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Die Katastrophe falscher Gleichheit

 
     
 
Anläßlich des 50. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurden die weltweiten Erfolge im Bewahren und Durchsetzen der grundsätzlichen Menschenrechte in zahlreichen Reden gewürdigt. Aber wenn die Zustimmung zu einem politischen Problem bei uns so allgemein, beinahe ritualisiert ist, besteht dann nicht Grund zur Skepsis? Offensichtlich ist das Objekt der weitverbreiteten Zufriedenheit so beschaffen, daß sich jeder ohne Schwierigkeit dazu mahnend bekennen kann, es erregt keinen wirklichen Anstoß mehr. Ist das Eintreten für Menschenrechte zur Routine verkommen? Haben wir unser Anliegen den Phraseologen überlassen?

Wir müssen uns über unsere Aufgabe immer neu verständigen. Wir müssen Menschenrechte nicht nur vor Sonntagsreden, sondern auch vor ideologischer Vereinnahmung beschützen. ...

Die moderne Bestimmung der Menschenrechte ist eng mit dem Begriff der Kritik verbunden. Ich weise deshalb darauf hin, weil "Menschen- und Bürgerrechtler" sich zu leicht angewöhnt haben, die Ankläger zu sein, weil sie glauben, stets auf der richtigen Seite zu stehen. ... Wir müssen die eigenen Ansprüche, ... immer wieder befragen. Für welche Menschenrechte treten wir ein? Sind alle Menschenrechte gleichwertig?

Für "die Menschenrechte" wurden während der Französischen Revolution Hunderttausende ermordet. Wir buchen diese Opfer wie selbstverständlich als unvermeidlichen Zoll für den geschichtlichen Fortschritt ab. Die kommunistischen Terrorregimes schrieben ihr ungeheuerliches Schwarzbuch
im Namen "der Menschenrechte" – und auch die Nationalsozialisten verteidigten das Blut- und Bodenrecht als Menschenrecht. Menschenrechte waren und sind nicht vor totalitärer Ausnutzung gefeit! Ich erinnere auch an die vielen Schriftsteller, die sich als "Humanisten" verstanden und zugleich Elogen auf Stalin dichteten, die im Westen die DDR als Alternative rechtfertigten, auch nach 1990, auch heute noch. Und nicht zuletzt die PDS behauptet heute frech, sie vertrete die Rechte unterdrückter Menschen, wahre ihre Menschenwürde.

Die Bestimmung der Menschenrechte ist gebunden an die Menschenwürde.  Menschenwürde, Dignitas, das ist der Rang einer Person, ihr Ansehen in einer Gemeinschaft. Würde läßt sich offensichtlich nach politischem Ermessen festlegen. Auch die Verfassung der DDR kannte die "Menschenwürde" als zentrales Gebot. Das heißt, unser Eintreten für bestimmte Menschenrechte setzt eine politische, weltanschauliche Entscheidung, setzt ein gewisses Menschenbild voraus. Wir dürfen uns durch einen entgrenzten Menschenrechtsbegriff  keine grundsätzliche Übereinstimmung vortäuschen, uns nicht politisch "einlullen" lassen.

Jede Definition der Menschenrechte ist an eine Bestimmung des Menschen selbst gebunden. Der Mensch aber kann keinen Standpunkt jenseits seiner selbst gewinnen. Jede Aussage über den Menschen ist eine Aussage über sich selbst – und von Vorurteilen behaftet, die wir aus unserer Geschichte, Kultur, aus unserem gesellschaftlichen Umfeld aufnehmen. Und unser Menschenbild ist ein modernes, das unverwechselbar in der europäischen Tradition und ihrem Begriff der Freiheit wurzelt. Freiheit ist das primäre Menschenrecht. Im Zeitalter der Aufklärung ... ist Freiheit neu, und zwar primär politisch – und nun als Freiheit vom Staat definiert worden. Das Menschenrecht wurde als politischer Partizipationsanspruch bestimmt und an das Postulat der Gleichheit gekoppelt. Wie aber passen diese beiden Rechte zusammen?

Zugrunde liegt den modernen Menschenrechten und also unseren Vorstellungen von Menschenwürde der Allgemeinheitsanspruch der bürgerlichen Individualität. Nun steckt vielleicht in den Forderungen nach universalen Menschenrechten ... auch ein Wille zur Macht. Verbirgt sich im allgemeingültigen Postulat der Menschenrechte nicht ein subtiler Totalitarismus? Ich spreche diesen Punkt an, um daran zu erinnern, daß wir, wenn wir das Selbstbefragen vergessen, schnell dort angelangt sind, wo mittels abstrakter Menschenrechte selbst Gewalt ausgeübt wird, individuelle Menschenrechte ignoriert werden. Ein Beharren auf Menschen- und Bürgerrecht, das sein kritisches Movens aufgibt, läuft Gefahr, freie Meinung zu unterdrücken und in bequemen Denkschablonen zu verharren.

Wie selbstverständlich etwa ist uns das Urteil geworden, die "Dritte Welt" werde von der "Ersten Welt" ausgebeutet. Gibt es dafür Belege? Warum sollten wir die sogenannten Entwicklungsländer aus der Konkurrenzwirtschaft suspendieren? Im Namen der Gerechtigkeit? Was heißt Gerechtigkeit? Freiheit zumindest bedeutet auch Freiheit, Fehler zu machen, aus diesen Fehlern zu lernen, dafür aber zugleich geradezustehen. Ich verweise weiterhin auf die Political Correctness, die im Namen des Rechts auf Gleichartigkeit fundamentale Freiheitsrechte außer Kraft setzt, mittels Quoten und Verboten eine gleichförmige Gesellschaft schaffen will. In Deutschland wurde dadurch ein bedrückendes geistiges Klima erzeugt.

Unter dem Anschein, die Meinungsvielfalt zu sichern, wird die Freiheit des Denkens und Redens gerade eingeschränkt, wird alles, was neben der herrschenden – und also zur Zeit linken – Meinung liegt, pauschal diffamiert. Für Menschenrechte eintreten heißt in erster Linie, die Bedingungen für das freie Denken sichern, für den offenen Diskurs eintreten, für eine Streit-Kultur, die diesen Namen auch verdient.

Freiheit ist alles andere als selbstverständlich. Sie wird auch gefährdet von utopistischer Unterhöhlung. Wenn ... der "Mensch" vom "Bürger" getrennt wird, wenn die Rechte des Menschen bloß abstrakt und universal formuliert werden, dann droht die Verwirklichung des Idealstaates, dann droht Totalitarismus – und zu welchen realen Ergebnissen das führt, muß ich nicht erläutern. ...

Das bedeutet: Menschenrechte dürfen nicht ideologisch überhöht werden, sondern müssen an die Conditio Humana gebunden bleiben. Freiheit ist sehr konkret: Konkrete, lebendige Demokratie ist das Gegenteil von Ideologie und profanisierter Heilslehre. Skeptisches Verteidigen der Menschenrechte ... verlangt also, Ideale nicht als dogmatische Maßgaben für Handeln aufzufassen und Menschenrechte nicht zu überindividuellen, übergeschichtlichen Normen zu erklären.

Grundlage unseres demokratischen Wirkens und freiheitlichen Denkens kann nur die grundsätzliche Anerkennung der ... Unvollkommenheit des Menschen sein. Menschenrechte sind kein bloßes Gedankengut, sondern müssen die Bindung an die konkrete Lebenswelt, an das Allzumenschliche behalten. Das Abwägen, die "Klugheit" – schon bei Aristoteles das Kriterium politischen Handelns und unterschieden von wissenschaftlichen Denken – sollte uns auszeichnen. Der individuelle "Mensch" muß vor der "Menschheit", vor jeder "wissenschaftlichen Weltanschauung" und ihren Rechten stehen.

Beispiele, wie selektiv Menschenrechte behandelt und in die Öffentlichkeit gebracht werden, wie sie vereinnahmt und historisch zurechtgerückt werden, wie stark Menschenrechte den Tabus der politischen Feigheit unterworfen sind, gäbe es aus der Gegenwart sehr viele zu nennen. Ich möchte aber ein Beispiel aus der Geschichte erwähnen, das eigentlich noch nicht Geschichte ist. Am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aus dem Osten Deutschlands mehr als zwölf Millionen Menschen – durch keine historische Theodizee (Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels) gerechtfertigt – vertrieben. Fast eine halbe Million Zivilisten kam dabei ums Leben, mehr als Hunderttausend wurden direkt und meist willkürlich ermordet – darunter viele Kinder. Etwa 500 000 Menschen wurden aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern, Schlesien und dem Sudetenland, aber auch aus Siebenbürgen und dem Banat zur Zwangsarbeit verschleppt – vor allem Frauen.

Die wenigen Zurückgekehrten haben nie Entschädigung erhalten. Weil sie nicht offiziell verurteilt wurden, sind sie bis heute nicht rehabilitiert worden. Ich möchte dieses Thema zu unserer nächsten Tagung im Herbst in den Mittelpunkt stellen. Wir können Opfer nicht danach auswählen und ihrer gedenken, ob ihr Sterben dem heutigen Zeitgeist entspricht. Wie wollen wir gegen Vertreibung protestieren, wenn wir schon Angst vor der Geschichte und ihrer Ambivalenz haben?

Es gibt aber nicht nur keine absolute Gerechtigkeit, es gibt auch keine universale Vorstellung von Menschenrecht. Wir europäischen Menschenrechtler müssen uns – gerade weil die Welt enger "zusammenrückt" – wieder der Herkunft unserer Begriffe und Ansprüche vergewissern. ... Ich möchte also nicht falsch verstanden werden. Ich fordere keineswegs dazu auf, grundlegende Menschenrechte zur Disposition zu stellen, nur weil sie "europäisch" geprägt sind und angeblich einem westlichen "Imperialismus der Werte" dienen. Im Gegenteil. Ich möchte zwar darauf hinweisen, daß uns das Thema von Differenz und Identität in Zukunft stark beschäftigen muß. Meine Frage aber lautet: Worin besteht unsere Identität? Kulturelle Differenzen werden gegenwärtig immer stärker negiert durch einen universalen Gleichheitsbegriff ... – Aber ist Gleichheit nicht ein Menschenrecht? Ganze Kulturen verschwinden. Wir müssen also einerseits aufpassen, daß wir nicht den Interessen einer nivellierenden Kultur dienen. Aber andererseits dürfen wir nicht auf unsere Vorstellung von Freiheit verzichten.

Haben wir einem pervertierten Postulat der Gleichheit zu viel Raum gegeben? Humanität als geistiger und sittlicher Boden der Menschenrechte hängt ab von Erziehung, Sprache, Tradition, Kultur, von Bildung. Ein abendländischer Kerngedanke ist die Freiheit ... Wenn wir also die kulturelle Differenz und Vielfalt verteidigen, dann haben wir auch das Recht, auf unserer Identität beharren zu dürfen. Dieses Selbstbewußtsein erst ermöglicht das Anerkennen des Anderen. Auch das wird uns also stärker beschäftigen müssen: Die Bindung der Menschenrechte an eine bestimmte Bildung – und die Gefahren für die Freiheit, die aus der Vernachlässigung unserer Tradition für das Freiheitsdenken entstehen.

Ich kehre zu meiner Frage zurück: Vertragen sich Freiheit und Gleichheit? Das Verweisen auf Menschenrechte ist Mittel in der politischen Auseinandersetzung, im Streit um Werte, im Ringen um die Macht. Wir stehen nicht im unpolitischen Raum, unsere Interessen sind nicht rein. Unser freiheitlich-demokratischer Leitgedanke ist der Schutz der unverfügbaren Würde der menschlichen Person. Keine staatliche oder gesellschaftliche Macht soll das Recht haben, über das Menschsein des Menschen zu bestimmen. Wir müssen acht geben darauf, daß dieses radikale Freiheitsrecht und mit ihm der Begriff der Demokratie nicht in ein Gleichmach-Recht uminterpretiert wird.

Freiheit und Gleichheit sind Menschenrechte, die nur dann zusammenpassen, wenn Gleichheit allein als Chancen- und Rechtsgleichheit gedeutet wird. Gleichheit als Gleichmacherei schränkt Freiheit ein und ist das Gegenteil von Gerechtigkeit. Die Priorität des Freiheitsbegriffs unterscheidet uns von denen, die die Menschenrechte und Menschenwürde immer noch in quasikommunistischen Programmen am besten aufgehoben finden. Freiheitliche Demokratie ist agonal, ist Konkurrenz. Sicher hat Freiheit ihre sozialen Schattenseiten, aber sie muß unser erstes normatives Regulativ bleiben. Denn das Postulat der Gleichheit hat historisch in die Katastrophe geführt.

 
     
     
 
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