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Die junge Generation entdeckt die Heimat ihrer Großeltern, jubelten vor nicht allzu langer Zeit die Medien und lobten junge Schriftsteller, die sich der Themen Ostdeutschland oder Schlesien auf ihre Art annahmen. So neu ist das nun nicht, mag der eine oder andere einwenden und dabei nicht zuletzt an zwei Romane denken, die Helga Lippelt bereits 1988 und 1994 vorlegte: In "Popelken" und "Abschied von Popelken" schrieb sie über eine Heimat, die sie nur vom Kinderwagen aus erlebt hatte. 1943 in Insterburg geboren, kannte sie Ostdeutschland, die Heimat der Mutter und Großmutter, nur aus den Erzählungen und Erinnerungen der beiden Frauen. - "Zuhause, das diesen Namen verdient, das war eine andere, eine unwirkliche Welt, die sie zwar noch mit ihren eigenen Augen gesehen hatte, aber ihre Augen erinnerten sich nicht." - Einige wenige vergilbte Fotograf ien, die das Inferno des Krieges und die Wirren der Flucht überstanden hatten, zeigten dem Kind, der heranwachsenden jungen Frau, wie es war, damals in Popelken, Kreis Labiau. In ihren Büchern wird Popelken zur "Weltbühne und überlebt als Dichtung seinen Unter- gang, so wie Jokehnen, Polninken, Suleyken, Kalischken und Maulen", hört man 1994 bei der Verleihung des Ostdeutschen Kulturpreises für Literatur an Helga Lippelt. "Doch hier meldet sich die nächste Generation zu Wort; es sind nicht mehr die - wie Lenz und Surminski -, die Ostdeutschland als Heimat noch als Kinder erlebt haben. Mit Helga Lipppelt machen sich die Jahrgänge nach Ostdeutschland auf, für die das Land etwas Unwirkliches an sich hat - um dann doch immer vertrauter zu werden."
Die Leser haben "Popelken" und "Abschied von Popelken" gern aufgenommen. Viele weibliche Leser haben die Geschichte der Frauen angenommen auch als die Ihre, eine Geschichte voller Entsagungen und Entbehrungen. Sicher: ein kleines Glück, das gibt s auch. Aber das Leben ist kein Honigschlecken, vor allem nicht für Lieske, die kleine Fixniedel mit der komischen Mutter, die kujoniert und ausgehunzt wird von der verbitterten Frau. Liesa will weg aus dem kleinen verträumten Popelken, so schnell wie irgend möglich. Dann lernt sie Max kennen, die große Liebe ihres Lebens. Ein Töchterchen ist bald unterwegs - ein kleines Glück? Doch der Krieg zerstört die schönsten Träume. Max muß an die Front, die Frauen bleiben allein und müssen auch allein den beschwerlichen Weg nach Westen gehen. Sie kommen nur bis nach Sachsen. Ihre Sorge um das tägliche Auskommen, aber auch um die nächsten Verwandten, um Huldchen und Agnes, denen die Flucht nicht mehr gelungen ist und die in Litauen dem drohenden Hungertod zu entkommen versuchen, prägt ihr neues Leben in Peinig an der Mulde.
Unaufdringlich und einfühlsam schilderte Helga Lippelt das Leid der Frauen, die nach langer Zeit dann doch zusammenfanden. Wie aber ging es weiter, damals in Peinig und anderswo? Helga Lippelt antwortet nun mit ihrem neuen Roman Fern von Popelken (Verlag Heiligenwalde, P. Lautner, Käthe-Kollwitz-Ring 24, 59423 Unna, Telefon 0 20 64/9 12 64. 224 Seiten, brosch., 12,50 Euro). Immer noch sind die drei Frauen beieinander, hausen in einer winzigen Wohnung und haben nur das Notwendigste zum Leben. Emmchen Idell ist immer noch verbittert und kujoniert ihre Umwelt. Lieske wartet auf Max (vergeblich) und arbeitet für drei, denn Brittchen, das schreckliche, verfressene Kind, wächst heran. Alltag in der jungen DDR, der Kampf ums Überleben nach dem Krieg, aber auch die Sehnsucht nach einem kleinen Glück, die Situation der Flüchtlinge, die nur geduldet werden und die ihre neue Umgebung nicht als Heimat annehmen ("Hier waren sie nur zufällig nach der Flucht gelandet. Der Zug hatte hier gehalten, das war der einzige Grund"), das alles sind Themen, die Helga Lippelt in ihrem neuen Roman meisterhaft behandelt. Wenn auch bald zehn Jahre zwischen dem letzten Popelken-Band und dem neuen Roman liegen, so fällt der Einstieg doch relativ leicht. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß Helga Lippelt es versteht, ihre Leser und vor allem Leserinnen zu fesseln - nicht durch spektakuläres Geschehen, sondern durch die kleinen Kümmernisse des Alltags, durch Gedanken und Gefühle, die jeder so oder ähnlich schon einmal gehegt hat und sich deshalb mindestens einer der drei Frauen nah fühlt.
Fern von Popelken schildert das Schicksal dreier Frauen, ohne Zorn und manches Mal gar mit einer Prise Humor. Schließlich klingt es nicht allzu verbittert, wenn Emmchen boßig in ostdeutscher Mundart zürnt, die im Anhang erläutert wird. Es ist aber auch ein Roman, der die Autorin - und so manchen Leser - zurück zu den Wurzeln führt. "Ich bin im Land der Mütter", schreibt sie zum Ende. "Und bald werde ich an jenem mystischen Ort sein, der mich mein Leben lang begleitet hat. Es hat ihn wirklich gegeben. Und es gibt ihn immer noch ... Das Aussprechen seines Namens war immer von einem verborgenen Singen und Raunen begleitet, von einer sehnsuchtsvollen Ehrfurcht. Er war nie von dieser Welt ..." Popelken, diese allgegenwärtige Heimat, hat das Leben der drei Frauen geprägt; auch wenn sie "fern von Popelken" waren, bestimmte es doch ihr Sinnen, ganz gleich welcher Generation sie angehörten. Popelken war (und ist) Ursprung. "Ich bin in Ostdeutschland geboren, habe dieses Land als Erbe mitbekommen, und die Stimmen der Erinnerung, die das einmal Erfahrene in der Geschlechterkette weitergeben. Manchmal vergeht ein halbes Leben, bis man sie hört", hat Helga Lippelt vor vielen Jahren einmal gesagt. Ihr, der Tochter des Schriftstellers Max Lippold, der sich seinen Lebenstraum, einen Roman zu schreiben, nicht erfüllen konnte (er starb 1946 in sowjetischer Gefangenschaft), liegt das Thema Ostdeutschland sehr am Herzen. Und mit ihren Popelken-Romanen gibt sie das Erbe der Väter (und Mütter) weiter an Nachwachsende. "Was meine Mutter an Glück und an Verlusten erlebt hat, steht für sehr viele Frauen ihrer Generation. Ich bin das nächste Glied der Kette. Ich habe zumindest die geistige ostdeutsche Welt noch selbst miterlebt, und es ist mir Verpflichtung und Bedürfnis zugleich, das aufzubewahren." Hören wir ihr zu.
Helga Lippelt: Erfahrungen weitergegeben
Begegnung in Kiel: Susanne Deuter im Gespräch mit Rosemarie Kilian (rechts) |
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