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Ausnüchterungszellen - für Kinder

 
     
 
Schon häufig wurde über Kinder im nördlichen Ostdeutschland berichtet, die von ihren Eltern verlassen wurden und ihr Dasein auf der Straße fristen. Häufig stammen diese Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen, aus Elternhäusern, in denen Vater oder Mutter Alkoholiker waren oder auf andere Weise auf die schiefe Bahn gerieten und ihren Kindern kein normales Leben mehr bieten konnten. Der Weg dieser Vernachlässigten ist meistens vorgezeichnet. Er führt direkt in die Abhängigkeit von Alkohol, Droge
n oder eingeatmeten Lösungsmittel-Dämpfen.

Laut inoffiziellen Schätzungen leben im Königsberger Gebiet Hunderte von Kindern, die Klebstoffe "schnüffeln". Bis auf wenige Ausnahmen stammen sie alle aus ärmlichen Verhältnissen. Armut und Zerfall sind ihnen bereits in ihre jungen Gesichter geschrieben. Niemand braucht sie, allen voran ihre eigenen Eltern nicht. Die Polizei fängt sie ein, weil dies von ihr verlangt wird. Seit August letzten Jahres werden alle Kinder und Jugendlichen, die betrunken oder mit Vergiftungserscheinungen erwischt werden, in die "Krassnaja"-Straße in Königsberg gebracht, wo sich eine Art "Ausnüchterungszelle" für Kinder befindet. Offiziell heißt diese Einrichtung "Soforthilfe-Zentrum für Minderjährige". Doch tatsächlich handelt es sich hier um eine Ausnüchterungsanstalt. Derartige Strukturen hat es bisher im Gebiet nicht gegeben. Die Ausnüchterungsanstalt wurde in der Nähe des Kinderheims Nr. 1 eingerichtet, und zwar deshalb, weil die Polizei laut Gesetz nicht berechtigt ist, Minderjährige in Gewahrsam zu nehmen, sondern sie irgendwo anders unterbringen muß. Da der Zustand, in welchem die Polizei die jungen Schnüffler aufgreift, meist schrecklich ist, werden sie in die Ausnüchterungszentrale für Kinder gebracht. Das Zentrum wird von Tatjana Lebedewa, einer ausgebildeten Pädagogin, geleitet. Einige Mitarbeiter helfen ihr bei der Ausübung ihrer äußerst schwierigen Aufgabe. Die vernachlässigten Kinder sind in ihrem extremen Zustand zu allem fähig. Beobachtet man sie beispielsweise beim Mittagessen, so fällt vor allem der Geruch nach Lösungsmitteln auf. Die Kinder können auch hier nicht aufhören zu "schnüffeln". Die Erzieherinnen kämpfen zwar dagegen an, jedoch selten erfolgreich. Die um den Tisch herum sitzenden Kinder haben nicht nur keine Manieren, sie benehmen sich wie kleine Bestien, die Raufereien um ein Stück Essen vom Zaun reißen. Die Erzieherinnen bemühen sich, ihnen beizubringen, wie man sich benimmt, doch da sie meistens noch betrunken und in einem toxischen Zustand sind, erscheinen die Bemühungen aussichtslos.

Laut Gesetz dürfen aufgegriffene Kinder in der "Ausnüchterungszelle" (auch diese Bezeichnung ist juristisch nicht begründet) maximal zwei Tage festgehalten werden. Und danach müssen sie in ein Heim oder in irgendeine Heilanstalt überführt werden, nur um sie nicht wieder auf die Straße zu schicken. Um die Kinder beispielsweise in ein Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt einzuweisen, wird die Einverständniserklärung der Eltern benötigt. Gerade die bekommt man meistens nicht. Deshalb schwebt das Kind weiter zwischen Himmel und Hölle. Genauer gesagt, es übernachtet in Heizungsschächten und auf Bahnhöfen, schnüffelt Haushaltschemie und gelangt so wieder in das Zentrum.

Während der Entwöhnung essen die Kinder sehr viel, sie werden auskuriert und bekommen viel Fett, damit sie etwas zulegen können. Das Zentrum ist sehr bescheiden ausgestattet. Es fehlen sämtliche Gegenstände, die darauf hindeuten könnten, daß es sich hier um eine Kindereinrichtung handelt. In einer Ecke legen Kinder ein Puzzle. Das ist auch schon alles. Deshalb vertreiben sich viele die Zeit mit Schlägereien. Dennoch ist für diese Kinder nicht jede Hoffnung verloren. Sie wollen Wärme und Güte. Andrej H. beispielsweise würde gerne die Schule besuchen. Er weiß allerdings selbst, daß es ihm kaum möglich wäre, hinter einer Schulbank zu sitzen. Er ist 15 Jahre alt, besitzt weniger Elementarkenntnisse als ein Erstkläßler. Daneben gibt es viele, die mit Mühe lesen können. Ihre Universitäten sind Keller und "Warme Orte". Die Stadtverwaltung schätzt die Zahl der Obdachlosen auf 150 in Königsberg. In der Kartei des Heims sind bereits 87 persönliche Akten angelegt. Es werden nicht nur städtische, sondern auch Jugendliche aus weiter entfernten Teilen des Gebiets hierher gebracht. Für Touristen gilt: um den obdachlosen Kindern zu helfen, sollte man ihnen keinesfalls Geld auf der Straße geben, denn dieses wird für Klebstoffe und Alkohol ausgegeben. MRH

 
     
     
 
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