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Heinrich Martinetz, so hieß der Briefträger, welcher jahraus, jahrein die Post nach Orlowen brachte. Sechsmal in der Woche fuhr er mit seinem rotlackierten Dienstrad gut vier Kilometer bis nach Roggendorf. Dortselbst befand sich das zuständige Postamt, wo Heinrich Martinetz die für seine Tour bestimmten Briefe, Karten und Zeitungen in eine reichlich abgewetzte Ledertasche stopfte, das eine oder andere Paket auf dem Gepäckträger festzurrte und auf der meist etwas löcherigen Chaussee zurückradelte nach Orlowen.
Diese Straße, welche die beiden Dörfer miteinander verband, lag übrigens sozusagen im hintersten Masuren; einer Gegend also, von der gerne gesagt wurde, hier sei der Anfang vom Ende der zivilisierten Welt. Jedoch, ganz so schlimm war es nicht, und dazu trug ein gehöriges Teil dieser Postbote Martinetz bei. Er stellte jedenfalls etwas dar, was man als ständigen Verbindungsstrang zu der großen und ereignisreichen Außenwelt bezeichnen mochte.
Und diesen hielt er allezeit nach besten Kräften offen. Denn es verging kein Werktag, an dem Heinrich Martinetz nicht auf der Straße zwischen Orlowen und Roggendorf zu beobachten war, an deren Rand übrigens zu beiden Seiten Bäume standen, Kastanien und Linden immer abwechselnd. Solches aber geschah bei jedem Wetter und zu jeglicher Jahreszeit. Mochte die heiße Augustsonne vom Himmel brennen oder eine Gewitterwolke mit Blitz und Donner drohen, mochten hohe Schneewehen die Chaussee säumen und strenger Frost die Natur zu Eis erstarren lassen – die Post kam unbeirrt tagtäglich nach Orlowen.
Kein Wunder also, daß Heinrich Martinetz das Dörfchen in der masurischen „Wildnis“ kannte wie den Inhalt der eigenen Hosentasche. Er wußte, wie lang die Kette war, welche den jeweiligen Hofhund an seiner Hütte festhielt und wurde deshalb auch nie gebissen. Und selbstverständlich war er bekannt mit allen Bewohnern seines Zustellungsbezirks. Von jeglichem wußte er, was diesen freute oder bekümmerte, was ihn ärgerte und was er mochte. Kurzum – der Briefträger von Orlowen war bei alt und jung beliebt und wohl gelitten.
Doch er tat auch einiges dazu und war zu mancher Gefälligkeit bereit, die über seine dienstlichen Obliegenheiten hinausging. Bei alldem blieb Heinrich Martinetz aber der bis ins Mark hinein korrekte preußische Beamte, der nie etwas tat, was er hinterher hätte bereuen müssen. Allerdings wurde diese strenge Pflichtauffassung hie und da durch eine gewisse Schlitzohrigkeit gemildert, die man getrost auf seine prussisch-masurischen Wurzeln zurückführen konnte.
So erzählte ihm einmal der Bauer August Stach, er habe vor, ein Schweinchen zu schlachten und bat dann: „Kannst du vielleicht Bescheid sagen in Roggendorf dem Emil Kaminski, daß er möcht’ kommen diesen Sonnabend?“ Der Postbote nickte bereitwillig. Denn er kannte selbstredend besagten Emil Kaminski, welcher weit und breit alle Hausschlachtungen zu erledigen pflegte. Er war sehr gefragt, denn er konnte eine Leberwurst machen, daß einem das Wasser im Mund zusammenlief. Und dazu einen Schinken, der zart und saftig war zugleich.
August Stach war zufrieden, weil nun all das geregelt würde, wie es sich gehörte. „Kannst“, so sprach er deshalb, „kannst – wenn geschlachtet ist – einen Ring Mettwurst mitnehmen und Stück Speck wird auch für dich da sein.“ Doch Briefträger Martinetz schüttelte energisch den Kopf: „Nuscht da! Als Beamter darf ich so was nicht. Könnte sein Bestechung!“ Der Bauer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Schon gut“, sagte er, „wirst eben deine Frau schicken müssen – wie jedesmal.“
Besonders sorglich ging der Herr „Pastorat“, wie er sich nicht ungern nennen ließ, mit den ihm zur Verfügung gestellten beruflichen Ausrüstungsgegenständen um. Das galt vor allem für seine „Amtsbrille“, mit der seiner nachlassenden Sehkraft abgeholfen werden sollte. Sie kam nur dann auf seine Nase, wenn rein dienstliche Angelegenheiten anstanden. Selbst seine persönliche Post sowie das Kreisblatt, das er jeden Abend studierte, las er mit bloßem Auge. „Es könnten ja“, so argumentierte Heinrich Martinetz, „abgenutzt werden die Gläser womöglich.“
So wie seine absolute Korrektheit stellte der Briefträger aus Orlowen auch die ihm innewohnende Bauernschläue immer wieder unter Beweis. Eine solche Episode soll hier erzählt werden. Sie spielte im einzigen Wirtshaus des masurischen Dörfchens an einem Sonntagabend, als sich dort nahezu alle männlichen Bewohner bei einem Tulpchen Bier versammelt hatten, um sich von den Anstrengungen der gerade laufenden Kartoffelernte ein wenig zu erholen.
Auslöser war der Großbauer Herberts Kruszka, welcher diese Frage an Heinrich Martinetz zu richten beliebte: „Sag mal, mein Bester, ich möcht’ gern wissen, womit eigentlich die Post ihr Geld verdienen tut? Sie verkauft eine Zehn-Pfennig-Marke für akkurat zehn Pfennig und eine Zwanzig-Pfennig-Marke kostet genau zwanzig Pfennig. Das ist doch kein Geschäft, oder? Und ohne jeden Profit muß man pleite gehen unweigerlich. Das weiß jedes Kind.“
Ob dieser Herbert Kruszka seine Frage im Ernst und aus reiner Wißbegier stellte oder ob er den biederen Postbeamten aufs Glatteis locken, ihn dort ausrutschen und auf die Nase fallen lassen wollte, soll dahingestellt bleiben. Wie auch immer, Heinrich Martinetz holte seine „Amtsbrille“ hervor und setzte sie etwas umständlich auf. Dazu fühlte er sich berechtigt, denn es war ein sozusagen dienstliches Problem an ihn herangetragen worden. Also musterte er den Frager ein Momentchen durch die Gläser, ehe er Antwort gab.
Und diese lautete so: „Du hast, Herbert Kruszka“, so sagte er, „durch und durch recht mit dem, was du erzählt hast. Die Post, sie macht tatsächlich keinen Gewinn, wenn sie verkauft eine Zehn-Pfennig-Marke für zehn Pfennig und eine Zwanzig-Pfennig-Marke für zwanzig. Aber sie macht trotzdem nicht Konkurs, wie ‚Pleite‘ amtlich genannt wird. Und warum nicht? Das werd’ ich jetzt erklären, so daß es jeder versteht.“
Es war mittlerweile mucksmäuschenstill geworden in der Wirtsstube von Orlowen. Jeder wollte mitkriegen, welche Auskunft Heinrich Martinetz geben würde. Der nahm erst einen ordentlichen Schluck aus dem Bierglas, ehe er anhub: „Du mußt wissen, Lieberchen, daß ein Brief, auf dem eine Zwanzig-Pfennig Marke gehört, zwanzig Gramm wiegen darf. Und ein Päckchen, welches sechzig Pfennig kostet an Porto, darf bringen exakt vier Pfund auf die Waage höchstens. Hast jetzt kapiert?“
Der Großbauer Herbert Kruszka hatte nicht. Er kratzte sich verlegen am Kopf und zuckte verständnislos die Achseln. Alle anderen Gäste taten dasselbe. „Ihr seid wirklich rein dammlich“, entfuhr es dem Herrn Postrat. „Dabei ist doch so einfach. Denn – nicht jeder Brief ist zwanzig Gramm schwer. Und die meisten Päckchen sind auch leichter als vier Pfund. Und an diesem Untergewicht, da verdient die Post!“
Wenn ein Metzger gefragt war – er konnte ihn holen
"Ihr seid wirklich rein dammlich", erklärte Martinetz
Der Briefbote und sein Dorf: Postzustellung um 1930 |
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