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Wir treffen uns im Berliner Ostbahnhof, wo auf Gleis 2 der Zug in Richtung Posen abfährt, um dort auf Perron 3 in den Zug umzusteigen, der uns nach Allenstein bringen soll. Und von da sind es noch 15 Kilometer bis in das Dorf, in dem wir wohnen werden, in einem Haus "direkt am See", wie es in der Anzeige geheißen hat, die mich sofort faszinierte. An der Grenze gibt es einen Stempel in den Reisepaß, und nun kann das "Abenteuer" beginnen, von dem der Mensch am Schalter der Deutschen Bahn sprach, als ich ihm mein Reiseziel nannte. Und mutig sei ich, fügte er hinzu. Ob ich allein führe, wollte er wissen. Nein! Deshalb eben findet das Treffen auf dem Ostbahnhof in Berlin mit meiner Nächsten statt, die schon 700 Kilometer hinter sich hat, um gemeinsam mit mir dieses Abenteuer zu bestehen. "Besser so", meint der Beamte und klärt mich über die Gefahren auf, die uns dort erwarten werden: Taxifahrer beispielsweise, die einen unnötig durch finstere Gegenden fahren und einem anschließend beim Bezahlen das Fell über die Ohren ziehen wollen. Na, und überhaupt ...
Da ließ ich mir doch auf die Schnelle noch eine Sicherheitstasche in die Innenseite meiner alten Lederjacke nähen, vorsichtshalber ... Um es gleich zu sagen, die 15 Euro, die das kostete, hätte ich besser in Zloty umtauschen sollen, denn sie waren weggeworfenes Geld, abgesehen davon, daß der Verschluß nicht richtig funktionieren wollte. Deshalb warfen wir die von außen geschürten Ängste bald über Bord, eigentlich schon im Bordrestaurant beim Verzehren einer dieser fantastischen Suppen, die wir noch von früher kennen, Borschtsch. "Göttlich", sagte Onkel Heinrich zu Elli, als er zum erstenmal ihre Suppe aß. Aber was sollen hier Elli und Onkel Heinrich? Wir fahren heute nach Masuren, um uns einen Traum zu erfüllen, der schon lange durch unsere alten Köpfe geistert: Frühling in Masuren zu erleben, unserer Heimat. Ist es nicht ein großes Glück, daß wir diesen Traum im Alter noch verwirklichen können? Über alle Grenzen hinweg? Wir jedenfalls sind begeistert. Das muß sich mitteilen. Schon im Zug nach Posen knüpfen sich Kontakte, ähnliche Schicksale, ähnliche Ansichten verbinden eben.
Nun aber erst zu unserem Haus am Wülpingsee. Was soll man sagen. Es war Eintauchen in ein uns noch erinnerliches einfaches Leben, in dem alles groß ist. Der Himmel, der Wald, der See, die Gefühle. Schon Ernst Wiechert berichtet davon.
So "einfach" ist es denn doch nicht, wie mancher meinen mag. Es gibt eine tolle Dusche mit viel heißem Wasser, eine Küchenzeile, Panoramafenster mit Blick auf den See mit seiner Insel. Das Hoftor läßt sich sogar elektronisch öffnen. Wir wählen das Seitentor und gehen wie im Traum über diesen Hof, der ähnlich dem unseren ist. Trampelpfad durch Kraut.
In den nächsten Tagen machen wir eine Fahrt mit der Bahn nach Nikolaiken. 100 Kilometer. Zwei Stunden Zugfahrt. Landschaft ohne Ende, die an uns vorüberzieht, Störche, die ernsthaft über frischgepflügte Felder schreiten und nach Nahrung suchen. In Nikolaiken sind kaum Touristen. Vier davon aber sitzen hinter uns an einem Tisch an der Uferpromenade, und ungewollt hören wir, wie über die Frage nachgedacht wird, ob man mit dem Flugzeug oder dem Auto am besten nach Venedig kommt. Plötzlich fragt einer von ihnen: "Was ist das hier eigentlich, ein Fluß, oder was?" Sollen wir ihn aufklären, daß hier gleich um die Ecke der Spirdingsee beginnt, einer der größten Seen Masurens? Wir lassen es lieber und fragen uns, wie wir nur so geworden sind, wie wir sind ...
Rastenburg wird angesteuert im öffentlichen Verkehrsmittel, dem Bus. "Drei kleine Straßen, mit Häuserchen wie aus einer Spielzeugschachtel, münden auf den stillen Marktplatz ..." Arno Holz, Rastenburger. Leider ist das Haus, das ihm zu Ehren im vergangenen Jahr eröffnet wurde, geschlossen. Ist Arno Holz schon vergessen? (Nirgendwo ein Hinweis am Haus, warum es zu ist.) Wir haben ihn nicht vergessen, wir sagen wie er: "Mir ist alles wie ein Traum. Soll ich bleiben? Soll ich weiterzieh n?" Und die Kringel, von denen er spricht, haben wir auch gegessen, und sie sind wirklich das Schönste, was es gibt, und "die kann man immerzu essen". Bis der Mond den Dächern in die Schornsteine sieht und das ganze Städtchen wie versilbert liegt, bleiben wir nicht. Wir müssen ja noch zu Bartel, dem steinernen Freund der Kinderjahre.
Wir lernen 22 Wörter in fremder Sprache, und wenn sie nicht ausreichen, findet sich immer einer, der uns hilfreich zur Seite steht. Unsere hilfreiche Zufallsbekanntschaft, die wir nach der Richtung zur Burg fragen, will uns gleich hinbringen. Also, das geht zu weit. Wir müssen uns doch erst einmal stärken in dem schönen alten Café am Markt unter den Arkaden, Fleck, früher Königsberger genannt, und danach heißen Apfelkuchen mit Eis - Lody - und Schlagsahne. Nun zu Bartel in den Burghof, der den richtigen Rahmen für ihn abgibt. Ein alter Baum spendet Schatten, und jeden Tag ist er Mittelpunkt. Schulklassen kommen, Touristen, alte Bekannte wie wir, und wir erleben sogar Weltum-fahrer, die ihre Räder und sich vor ihm aufbauen, sich gegenseitig fotografieren. Gutmütig läßt er es zu. Er gehört niemandem. Ist zeitlos und alt wie die Zeitrechnung. Wir nicht, und deshalb zurück zu unserem See, der jeden Tag anders wirkt. Viel fällt von uns ab in diesen zauberhaften Frühlingstagen, Ballast, der unnötig beschwert. Alles ist, wie es sein muß.
Ob es ein Frühstücksbuffet gab, will ein Zurückgebliebener wissen, und wie viele Sterne unser Hotel hatte. Keinen, dafür gab es abends viele am Himmel zu sehen, wir hörten die Nachtigall und die Lerche. Buffet brauchten wir nicht, denn alles, was wir brauchten, stand vor uns auf dem Tisch am Panoramafenster. Kein Gerenne beim Frühstück, um noch die Reste von den fast leergeräumten Platten zu erwischen. O nein, das nicht. Stille, über allem lag Stille, nur manchmal hörten wir von der Insel im See Musikfetzen herüberwehen, denn der Wirt hatte uns erzählt, daß die Allensteiner früher am Sonntag mit einer Fähre übersetzten, drüben tanzten, "kaffeesierten" und die "Alten spazierten". Aber alles das sei schon lange her.
Bartel: Dezent hinter dem Blumenkübel im Hof der Allensteiner Burg. Foto: Bethke
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