|
Es war eigentlich immer recht harmonisch und beschaulich zugegangen in dem kleinen Dorf an der Memel. Die Menschen kannten und schätzten einander. Und wenn den einen oder den anderen ein Unglück traf, wurde Anteil genommen und Hilfe angeboten, soweit es möglich war.
Eines Tages aber wurde das friedliche Leben dort ziemlich gestört. Und zwar durch eine einzige Person. Sie war die Nichte der Gastwirtin und stand seit dem Tag ihres unverhofften Auftauchens in deren Gaststube, um das älter werdende Tantchen zu entlasten und sich einzuarbeiten; denn die Tante hatte sich von einer Anzahl von Nichten eben diese, die Lina, als ihre Nachfolgerin ausgesucht.
Lina gab ihr Bestes. Und die hübschen, lang aus dem Rock ragenden Beine, der süße Schmollmund, die großen Kulleraugen und eine sehr schlanke Taille taten ihre Wirkung zusätzlich. Der Krug der Tante hatte seit Jahrzehnten nicht solche Blüte erlebt. Es gab kaum einen Mann im Dorf, der, seit die Lina hier bediente, nicht hereingeschaut hätte. Und wer wiederkam, blieb jetzt meistens sogar die doppelte oder dreifache Zeit hier sitzen.
Die alte Gastwirtin freute sich, mit der Lina eine so gute Wahl getroffen zu haben. Das Mädel war für den Krug wie geschaffen! Lina genoß die volle Sympathie ihrer Tante und bekam täglich anerkennende Worte zu hören.
Das war die eine Seite. Andererseits lud sich Lina aber Ablehnung und Haß vieler Frauen des Dorfes auf ihre jungen Schultern. Denn in vielen Häusern gab es, seit sie im Dorfkrug war, Unzufriedenheit und Szenen. Dabei versuchten manche Frauen anfangs noch zu vertuschen, daß ihre Männer zu denen gehörten, die immer wieder in den Dorfkrug rannten, seit die Lina dort bediente. Aber lange dauerte es nicht, bis sich alle darauf besannen, daß man auch in diesem Fall besser dran war, wenn man zusammenstand. Und nahezu im Handumdrehen bildeten die Frauen eine bemerkenswerte Verschwörung. Sie waren entschlossen, das Übel an der Wurzel zu packen, wie man so sagt. Und man war sich darüber klar, daß es zu allererst galt, herauszufinden, wo die Schwächen jener Lina lagen; denn nur so war eine Gegenwehr möglich.
Dazu brauchten sie nicht lange. Schnell ergab sich aus geschickt geführten Gesprächen mit dem Mädchen, daß dieses sonst recht selbstbewußte Menschenkind über- mäßige Angst vor Spuk und Gespenstern hatte. Das ließ sich nutzen!
Wenn viele der Frauen des Ortes auch ebenfalls nicht frei von Gespensterfurcht waren, so schloß das nicht die Möglichkeit aus, einmal selbst Gespenst zu spielen. Dafür jedenfalls entschied man sich! Lina war von dieser Stunde an keine ruhige Nacht mehr beschieden. Bald nachdem die Uhr zwölf geschlagen hatte, tickte es immer dreimal laut an ihrem Fenster. Und wenn sie - meistens bebend vor Angst - hinsah, so gewahrte sie vor dem Giebelfensterchen ihres Zimmers etwas, das dort hin- und herschwebte und sich dann über die nahestehenden Kiefern des angrenzenden Waldes entfernte.
Es war schaurig! Trotzdem ließ Lina diesen Spuk drei Tage lang gegenüber der Tante unerwähnt. Dann meinte sie, es nicht mehr in diesem Zimmer auszuhalten für eine weitere Nacht. Am späten Abend des vierten Tages gestand sie der Tante, was ihr in den vorangegangenen Nächten widerfahren war.
Die alte Gastwirtin wiederum war eine der wenigen Frauen, die nicht an Spuk glaubten. Aber um der Lina einen Gefallen zu tun, bot sie ihr das Ehebett ihres verstorbenen Mannes an. "Lieber nich!" wehrte Lina verschüchtert ab, "womöglich ist es der Onkel, der hier herumspukt, weil er vielleicht nicht will, daß ich in seinem Haus lebe!" Die Tante lachte hell auf. "Du Dummchen, du! Wie kannst du bloß so dammlige Gedanken haben? Aber wenn du wirklich so verschichert bist, denn schläfst eben in meinem Bett und ich nehm das vom Onkel!"
Für die Tante war die Sache damit erledigt. Und Lina schlief in dieser Nacht im Bett der Tante auch die ganze Nacht ungestört und ruhig. Der Boßhaken mit dem Schleier war um Mitternacht umsonst vor dem Giebelfenster umhergewedelt worden. Denn was sich am Abend vorher für Lina ergeben hatte, davon hatten die "Gespenster" noch keine Ahnung gehabt. Erst am nächsten Tag erfuhren die Nachbarinnen von der immer gesprächigen alten Gastwirtin die Spukvorkommnisse, von denen Lina erzählt hatte und wie darauf reagiert worden war.
Es war kurz vor Mitternacht, als an diesem Abend der letzte Gast den Dorfkrug verließ. Gleich danach begab sich die Lina zu Bett. Ein herrliches Gefühl der Geborgenheit beschlich sie, als sie sich neben der schlafenden Tante ausstreckte. Spät war es heute geworden. Der Ernst Endrun hockte ihr täglich länger auf der Pelle. Was der sich so einbildete!
Die Uhr schlug zwölf, das beschwor doch einige Spannung herauf. Aber - was sollte ihr hier, an der Seite Tantchens schon passieren! Gleich darauf fuhr sie jedoch erschrocken zusammen. Kein Zweifel - es hatte wieder am Fenster getickt. Lina verkroch sich unter dem dicken rotkarierten Zudeck. Doch sie fand keine Ruhe, sie mußte Klarheit haben. Sie wollte wissen, ob es wieder das Gespenst war, das sie in den Nächten zuvor oben vor dem Giebelfenster gesehen hatte.
Vorsichtig hob sie den Kopf aus den Federn. Tatsächlich, da draußen spielte sich das gleiche Schauspiel ab, wie vor dem Fenster des Dachstübchens. Jetzt gab es für sie keinen Zweifel mehr darüber, daß das Gespenst allein ihretwegen auftauchte. "Tantchen, Tantchen, wach auf! Es ist wieder da!" rief sie verzweifelt. Aber als die Tante aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, langsam zu sich kam und sich aus den dicken Federbetten hochrabastelte, war da draußen nichts mehr zu sehen. "Du hast geträumt, Marjellchen! Leg dich man hin und schlaf weiter!" beruhigte die Tante die Nichte.
So blieb Lina für den Rest der Nacht mit ihrem Kummer und den dazugehörigen Ängsten allein. An Schlaf war trotz der Müdigkeit nicht zu denken. Sie lag wach und überlegte, was zu tun sei und kam zu dem Entschluß, sobald der Morgen graute, das Haus zu verlassen. Gleich mit dem ersten Dampfer wollte sie fort, trotz des stattlichen Erbes, das ihr mit dem Krug der Tante gewinkt hatte. Um nichts in der Welt wollte sie dies Haus mit dem fortwährenden Spuk vor dem Fenster haben. Sie wollte fort, nur fort!
Als die Tante erwachte, war die Lina bereits reisefertig. Kopfschüttelnd nahm die Tante den Entschluß des Mädchens hin. Jedes Wort schien ihr zu schade für soviel Dummheit. Sie ließ die Lina ziehen, wenn es ihr auch leid tat. Aber es gab ja noch ein paar andere Nichtchen, die sich in ihrem Krug auch nicht schlecht machen würden.
Noch am selben Tag wählte sie die Nachfolgerin aus. Und das Mädel, das jetzt kam, paßte in seiner frischen, natürlichen Art allemal besser in das Dorf an der Memel, in dem jetzt wieder alles seinen ruhigen, beschaulichen Gang ging. Und Gespenster sind seitdem vor dem Dorfkrug auch nicht wieder aufgetaucht.
Unterwegs von Ute Fröhner-Ludwig
Lange Straßen ohne Ende, Wege, die zum Himmel führ n, manche Biegung, manche Wende, die ein neues Feld berühr n.
Und es führen viele Pfade hin zum allerletzten Ziel. Ist die Vielfalt eine Gnade? Oder eine Gnad zuviel?
Ursel Dörr: Birkenallee (Aquarell)
|
|