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Das Lied der Heimat

 
     
 
Es war an einem jener wunderschönen Sommertage vergangener Jahre. Eigentlich hätte ich ihn für einen Ausflug in Gottes herrliche Natur nutzen sollen, aber wie es nun einmal so ist, ich mußte wegen einiger Notwendigkeiten in die Stadt.

Alle meine notierten Besorgungen waren da dann auch bald erledigt. Also raus aus dem Kaufhausgedränge und der Luftenge. Dem Ausgang zustrebend, vernahm ich angenehme Klänge. Auf der Georgstraße – Hannovers "Avenue" – sah ich, von lauschenden Passanten umringt, einen alten Mann, der, vom Akkordeon begleitet, Lieder sang. Von seinem Gesangsvortrag "Heimatlos
sind viele auf der Welt" bekam ich nur noch die letzte Verszeile mit. Es ist ein Lied, welches Freddy Quinn uns bereits in den 50er Jahren oftmals zu Gehör brachte.

Der Anzug des Sängers, fein und sauber, aber arg zerknittert, sah aus, als wäre er just zuvor einer in den 20er Jahren geschlossenen Wäschetruhe entnommen worden. So absonderlich auch das Äußere des Mannes war, diese kräftige, klare und für sein Alter noch wunderbar klingende Baritonstimme rührte mich und ließ die rasche Heimkehr total in Vergessenheit geraten. Spielerisch leicht huschten seine Finger über die Tastatur des Akkordeons, als er den Übergang für das nächste Lied improvisierte: "Mein Zuhause, das liegt unerreichbar weit, denn man hat über Nacht eine Grenze gebaut." Ich hörte diesen Text schon einige Male von Wolfgang Petry gesungen im Radio und bekam dabei stets, an meine geraubte Heimat denkend, feuchte Augen. Er hat es irgendwie mit der Heimat, dachte ich und trat näher zu diesem mich nachdenklich stimmenden Sänger. Unsere Augen trafen sich. Unversehens heftete sich dabei sein Blick an den Kragenaufschlag meiner Jacke, da wo sich die Anstecknadel mit der Elchschaufel befand. Sein mir zugewandtes Lächeln und leichtes Kopfnicken bestätigten meine Annahme.

Und dann geschah etwas ganz Unerwartetes: Mitten im Lied hielt er inne, setzte das Akkordeon ab, kam auf mich zu und bat mich, aber fordernd: "Komm, Landsmann, singen wir den Leuten das Lied unserer Heimat." Noch während ich mich innerlich dagegen sträubte und den Kopf verneinend schüttelte, war’s, als hörte ich mich sagen: "Na ja, warum nicht!" Fast väterlich legte er nun seinen Arm um meine Schulter und führte mich aus dem Kreis der Passanten hin zu seinem Platz. Für einen Moment nahm ich sogar die erwartungsvollen Blicke der Leute wahr. Sie signalisierten Neugier auf etwas Sensationelles. Unbehagen wollte sich bei mir breitmachen – doch da flüsterte mir schon der alte Mann zu: "Du singst die zweite Stimme, so wie damals in Düsseldorf. Du standest da direkt hinter mir. Doch nach dem Absingen warst du unauffindbar verschwunden!"

Ich war baff. Hatte ich diesen Mann doch zuvor noch nie gesehen. "Zwei Ostdeutschland, die sich in diesem Augenblick begegnet sind, singen Ihnen nun das Lied der Heimat", schmetterte er in die Menge. Den Kloß im Hals hinunterschluckend, irgendwie freudig erregt, legten wir los: "Land der dunklen Wälder ...". Getragen von der Häuserfassade der Georgstraße schallte es mächtig zurück. Daß sich die Anzahl der Zuhörenden vervielfachte, bemerkte ich nicht, aber daß mit Beginn der dritten Strophe einige neben mir lauthals mitsangen. Als die letzte Zeile der vierten Strophe verklungen war, herrschte andächtige Stille, und ich stand da wie in Trance. Plötzlich umarmte mich jemand. Der alte Herr, mit Tränen in den Augen, raunte mir zu: "Es war wunderbar!" Auch vernahm ich erst jetzt den Beifall. Während wir uns in Richtung der Passanten mehrmals verbeugten, lag wieder sein Arm auf meinen Schultern. Einige riefen "Zugabe", doch dazu kam es nicht. Denn nun gesellten sich zu uns jene fast vergessenen "Mitsänger". Drei ostdeutsche Ehepaare, in der Würzburger Gegend seßhaft geworden, waren gerade für einige Tage nach Hannover zu Besuch gekommen und fühlten sich durch das Lied unserer Heimat auf das Angenehmste begrüßt.

"Woher kommst?" wurde ich gefragt. "Aus Lyck, dicht bei Grenze!" Die anderen kamen aus: Elbing, Insterburg, Tilsit-Ragnit und zwei aus dem Memelgebiet. Der alte Herr – natürlich auch ein Masure – stammte aus Lötzen. Daß er mich, auf Grund der am Jackenrevers getragenen Elchschaufel, zum Gesang animierte, war von uns beiden schnell erzählt.

Mit Gesang war nun nuscht nich’ mehr. Der alte Herr packte sein Akkordeon ein, und wir kamen überein, dieses uns vom Schicksal bescherte Ostdeutschlandtreffen in einem nahegelegenen Café noch ein bißchen zu begießen und auch zu genießen. Wir schabberten über die Flucht, die Familie, den Beruf und natürlich über die Heimat. Zwischenzeitlich waren gute zwei Stunden vergangen. Doch bevor wir wieder auseinandergingen, erhoben wir uns, faßten einander bei den Händen, so daß wir einen Kreis bildeten und summten – sehr verhalten – nun noch einmal die Melodie des Ostdeutschlandliedes.

Diese Begebenheit und wie sie zustande kam, hat mich lange bewegt. Ursache war doch eigentlich dieses kleine Stückchen Blech mit der Elchschaufel. Der Tilsiter meinte, er werde fortan an jeder Jacke, außer der des Schlafanzugs, die Elchschaufel tragen, und das nicht nur als Erkennungszeichen. In einem Kirchenlied heißt es doch sehr treffend: "Es gibt ein frei Geständnis in dieser unserer Zeit, ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit ..."

Schon früher war ich stets überrascht, wenn mich völlig fremde Menschen mit "Hallo Landsmann" ansprachen, andere im Vorbeigehen innehielten, sich mir zuwandten, so als hätten wir uns schon seit eh und je gekannt. Einmal geriet ich in eine dörfliche Polizeikontrolle und hätte Bußgeld zahlen müssen. Doch dann sagte der Wachtmeister und tippte mit dem Finger auf die Elchschaufel: "Ein Ostpreuße, der seine Heimat hat hergeben müssen, ist für sein Leben lang genug bestraft", und ließ mich gehen. ... und alle diese Freundlichkeiten wegen dieser kleinen Anstecknadel.

 
     
     
 
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