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Das Vergessen ist eine allgegenwärtige Macht

 
     
 
Ein Volk wird nicht zuletzt auch dadurch bewertet, wie es mit seinen Toten umgeht. Werden die Grabstätten der nächsten Angehörigen gepflegt? Ehrt man das Andenken großer Verblichener, indem man ihre letzten Ruhestätten aufsucht? Heinrich Heine, dessen 150. Todestages am 17. Februar gedacht wurde, meldete schon zu Lebzeiten seine Zweifel an: "Keine Messe wird man singen, / Keinen Kadosch wird man sagen, / Nichts gesagt und nichts gesungen / wird an meinen Sterbetagen ..." Er irrte sich. Nicht nur an Gedenktage
n besuchen Freunde der Dichtkunst diese Grabstätte auf dem Pariser Friedhof Montmartre, die seine Büste schmückt, darunter eine Lyra und ein Kranz marmorner Rosen.

"Was wäre der Sommer ohne die Flüge der Schwalben, und was wäre das Land ohne die Gräber der Dichter", hat Gottfried Benn einmal gefragt. Und viele folgen dem Ruf der toten Dichter und ziehen zu ihren Grabstätten. So mancher wird stumm Zwiesprache halten. Der Schriftsteller Günter Kunert schreibt in einem Essay über die Sterblichkeit der Dichter: "... wir wären ärmer ohne diese Gräber mit ihren manchmal merkwürdigen Erinnerungsbildern, es würde uns etwas fehlen: vielleicht die Bestätigung eines uns berührenden Seins, auch eines uns betreffenden Memento mori. Denn das Vergessen ist eine allgegenwärtige und unvergleichliche Macht, gegen die allein die Dichter, die Schriftsteller, überhaupt Künstler bis zu einem gewissen Grade gefeit zu sein scheinen. Daß just ihr Nachleben dauernden Bestand hat, liegt sicher daran, daß sie als individuelle Vermittler aufgetreten sind: als Vermittler zwischen dem, was wir ,das Leben nennen, und unserer mehr oder weniger bescheidenen Existenz. Wir sind fähig, durch die von ihnen, den Berühmtheiten, hinterlassenen Werke unser eigenes Dasein zu erweitern, es über den Status bloßer irdischer Anwesenheit hinauszunehmen - um nicht zu sagen: zu transzendieren. Darin liegt die Größe der Literatur." Nachzulesen ist der Text von Kunert in einem bei Gerstenberg herausgekommenen Buch von Peter Andreas: Im letzten Garten - Besuch bei toten Dichtern (208 Seiten, etwa 120 Fotos in Duplex, gebunden mit Schutzumschlag, 24,90 Euro). Andreas hat rund 120 Gräber großer Dichterinnen und Dichter aufgesucht, ist dafür durch Europa gereist und hat seine Eindrücke mit der Kamera festgehalten. Neben die Fotos hat er Texte der Toten gestellt: Aphorismen, Gedichte, Ausschnitte aus Erzählungen, Romanen, Schauspielen und Briefen. Diese Texte über den Tod, das Werden und Vergehen sind so vielseitig wie die Auswahl der Dichterinnen und Dichter. Petrarca und Shakespeare, Klopstock und Lessing, Schiller und Goethe, Eichendorff und Fontane, E.T.A. Hoffmann und Arno Holz, Thomas und Heinrich Mann, Shelley und Keats, Gogol und Tolstoi - allein diese Reihe liest sich wie eine europäische Literaturgeschichte. Dieser Bildband regt an, die Gräber der Großen selbst einmal aufzusuchen, vor allem aber ihre Werke wieder einmal zu lesen.
 
     
     
 
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