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Die Debatte um eine deutsche Leitkultur ist längst nichts besonders Provokantes mehr. Selbst in der alternativen Studenten-Wohngemeinschaft oder den Fraktionsräumen von Roten und Grünen wünscht man sie sich, und das zunehmend sogar recht offen, wie von dort durchsickert.
Angesichts dieser Entwicklung verweist die brandenburgische CDU selbstzufrieden darauf, daß sie schon immer recht gehabt habe. Der Landesverband hatte Norbert Lammert, den Bundestagpräsidenten, nach Potsdam geholt, um über die "Leitkultur" zu diskutieren.
Der CDU-Landesvorsitzende Jörg Schönbohm beschränkte sich bei der Diskussion in der brandenburgischen Hauptstadt im wesentlichen auf die Feststellung, für diese oder jene Aussage in der Vergangenheit kritisiert worden zu sein. "Vor zehn Jahren wurde ich noch diskriminiert. Da hieß es, ich würde nur Sauerkraut essen. Dabei tue ich das nur einmal oder zweimal im Jahr." Dreimal begann er einen Satz mit "Als ich das damals gesagt habe ..." Dazu zitierte der Innenminister den verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau, der in den 80er Jahren gegen die deutsche Einheit gewesen sei.
Auch inhaltlich ging er nicht über das hinaus, was er schon vor zehn Jahren für richtig befunden hatte. Er beharrte darauf, daß das Erlernen der deutschen Sprache der zentrale Punkt sei, wenn es um die Integration der Ausländer gehe. Dabei sind nach den Krawallen in Frankreich viele andere längst zu der Auffassung gelangt, daß Spracherwerb allein noch gar nichts bewirkt. Die arabischstämmigen Gewalttäter sprachen fließend französisch.
Nach dem CDU-Landeschef sprach Lammert, der wie Schönbohm ebenfalls das neue Buch "Wir Deutschen" von Matthias Matussek (dieberichtete) erwähnte. Lammert jovial über das Patriotismusbuch des "Spiegel"-Kulturchefs: "Bei manchen fällt der Groschen halt langsam."
Lammert - ein vortrefflicher Redner - machte einige interessante Anmerkungen. So sagte er über den "Dialog" mit fremden Kulturen, der von der Multikulti-Fraktion stets eingefordert wurde: "Eine Mindestvoraussetzung für einen Dialog ist erst einmal ein eigener Standpunkt." Ergo: Wer keine eigene Kultur hat, kann auch nicht mit Fremden den Dialog führen.
Dann zog auch er sich auf das Ich-habe-es-schon-immer-gesagt-Feld zurück. Er zitierte aus alten Artikeln in der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), um zu beweisen, daß die Union mit dem Begriff Leitkultur recht gehabt habe, und nicht SZ-Kommentaror Heribert Prantl. Der heutige Chef des Innenressorts bei der "Süddeutschen" hatte "Leitkultur" 2000 als "Totschlagwort" charakterisiert. 2005 habe Prantl dann plötzlich geschrieben, die Leitkultur sei ein "Lernprozeß" - vermutlich vor allem für ihn selbst. Was fiel Schönbohm und Lammert jeweils als erstes ein, was uns Deutsche mitsamt Leitkultur von anderen - zum Beispiel zugewanderten Moslems - unterscheidet? Beide nannten unisono die gesetzliche festgeschriebene Gleichstellung von Mann und Frau. Der Christdemokrat Lammert ging noch weiter und nannte die Trennung von Kirche und Staat als Errungenschaft Nummer zwei. In ein und derselben Gesellschaft könnten beide Ansprüche nicht gleichzeitig gelten (Gottesstaat und laizistischer Staat).
Bei beiden Rednern drehte es sich also gar nicht um kulturelle Identität, sondern fast ausschließlich um das Grundgesetz. Sich auf der Höhe der Zeit wähnend verteidigten sie in Wahrheit den gerade erst zu Grabe getragenen "Verfassungspatriotismus", der den Deutschen die Identifizierung mit dem Grundgesetz als Ersatz für die Identifizierung mit dem Vaterland andrehen wollte. Das wurde auch hinterher klar, als die Parteibasis - rund 100 Gäste - zu Wort kam. Zunächst schockierte Lammert einen Teil seiner Parteifreunde mit der Forderung: "Wir brauchen in Zukunft nicht weniger Zuwanderung, sondern mehr." Ein Murmeln ging durch den Saal.
Lammert entnationalisierte auch umgehend den Begriff Leitkultur: "Ich verwende nicht den Begriff der deutschen Leitkultur. Nichts an diesem Wertesystem ist außer der Sprache wirklich deutsch, sondern europäisch." Dies alles habe nichts mit einer nationalen Besonderheit zu tun.
Der Bundestagspräsident hat das Matussek-Buch zwar erwähnt, gelesen (oder verstanden) hat er es jedenfalls nicht. Dort steht nämlich über "uns Vorbildeuropäer": "Und wir verstehen allmählich, daß unsere Europa-Begeisterung auch wieder nur eine Flucht vor Deutschland war. Die Zeit ist gekommen, um einmal stillzuhalten und sich anzuschauen, was unsere Nation ausmacht und worauf wir stolz sein können." Matthias Matussek ist schon viel weiter als der Bundestagspräsident. Bei manchen fällt der Groschen halt gar nicht. |
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