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Im Sommer kam Bubi, mein Spielgefährte vom Nachbarhof, meistens schon um neun. Ausgeschlafen, sauber angezogen, das Haar akkurat gescheitelt, stand er plötzlich in der Küche und sagte leicht dienernd freundlich: "Guten Morgen!" Meine Zöpfe waren schon geflochten, aber ich saß noch am Frühstückstisch, obwohl dieser längst abgeräumt war. In meiner Tasse mit Gänselieschenbild wurde nämlich die Milch nicht weniger. Und Großmutters Androhung: "Erst austrinken - eher gibt nich raus!" galt es ernst zu nehmen. Saftwasser schmeckte mir - Milch nicht! Bubi drängte an jenem Morgen zur Eile. "Augen zu und in einem Zug runter! So mach ich s immer mit Salbeitee", riet er mir. Ich gehorchte.
Wir gingen nun zuerst unsere Beete gießen, die wir uns am Giebelende des Hauses angelegt hatten. Bubi hatte sein Beet in diesem Jahr auch bei uns. Wir hatten am selben Tag Astern gesät und waren gespannt, bei wem sie zuerst aufgehen würden. Wir gossen die kleinen Erdrücken mitunter dreimal am Tag, oft sogar, wenn es geregnet hatte, und hielten jedes aus der Erde drängende Unkraut für die erwartete Pflanze.
Dann kam Großmutter mit zwei emaillierten Halbliterstippelchen heraus. Das bedeutete wieder einmal Kamilleblüten pflücken! Eine lähmende Beschäftigung! Aber etwas Tröstliches war dabei. Wenn wir die vollen Gefäße ablieferten, gab es eine Belohnung aus dem immer verschlossenen Glasschrank. An diesem Tag waren es lange Pfefferminzstangen. Wir setzten uns damit auf den Holzbock, obwohl dies ein recht unbequemer Platz war, und schauten beineschlenkernd, lutschend und knasternd den Störchen auf dem Dach zu, die gerade Nachwuchs bekommen hatten.
Bald darauf schickte uns meine Großmutter mit dem vollgepfropften Kleinmittagskorb, an dessen Inhalt auch wir uns beteiligen wollten, aufs Feld. Wenn wir auch noch nicht hungrig waren, bei diesem vormittäglichen Mal am Feldrain zusammen mit den Feldarbeitern schmeckte es uns immer. Bubi liebte besonders den von meiner Oma gekochten Kümmelkäse. Ich aß lieber Rührei mit Spirgel. Beides war heute im Korb, davon hatten wir uns unterwegs schon überzeugt.
Auf dem Rückweg beschaffte sich Bubi einen etwas dickeren Weidenstock. In den schnitzte er später schachbrettartige Streifen und Schlangenlinienmuster. Ich flocht mir inzwischen einen Kornblumenkranz. Als unsere Schöpfungen fertig waren, spielten wir Braut und Bräutigam, wobei mich neben dem Blumenkranz ein Gardinenschleier zierte, während Bubi seine Bräutigamswürde durch den geschnitzten Stock betonte, und einen mit Ruß aus dem Küchenherd gemalten Schnurrbart. Manchmal lagen wir auch gelangweilt im hohen Gras und kauten an frisch gezupften Halmen. Dabei erzählten wir uns von Riesen, Drachen, Elfen und Zwergen.
Auch die dunkle Tiefe des Brunnens beschäftigte uns immer wieder. Der Brunnen zog uns seltsam an. Manchmal riefen wir, hastig hineinblickend, aus Leibeskräften nach der Brunnenfrau, an deren Existenz wir nicht zweifelten, und auch daran nicht, daß sie ganz schnell hochkommen und uns zu sich herunterziehen konnte. Daß man uns das erzählt hatte, schützte uns vor Leichtfertigkeit an diesem gefährlichen Platz. Doch trotz aller Bangigkeit lockte uns der Brunnen immer wieder, und mitunter erschraken wir beim Hineinschauen sogar vor unserem eigenen Spiegelbild. Ja, und manchmal bemerkten wir erst am Brunnen, wie durstig wir waren. So auch am Nachmittag dieses Tages nach längerem Hopschen-Spiel. "Ich hab im Eckschrank in der kleinen Stube beim Bonbonsuchen Natron gefunden. Wollen wir uns Brause machen?" schlug ich flüsternd vor. "Au ja! - Hol her!" antwortete Bubi freudig.
Es gelang mir, ungesehen die Tüte herauszuholen. Auch zwei Tassen mit Zuckerwasser waren schnell beschafft. Nur an den dafür außerdem notwendigen Essig zu kommen gab es für mich keine Möglichkeit. Großmutter saß in der Küche und entsteinte Kirschen, eine Dauerbeschäftigung, wie ich wußte. Der Essig mußte bei Bubi geholt werden!
Wir versteckten das Natron und die Tasse mit dem Zuckerwasser unter einem großen Rhabarberblatt in der Fliederhecke und versuchten unser Glück in der Küche seiner Mutter auf dem Nachbarhof. Ehe ich mich versah, stopfte Bubi die Essenzflasche in das Steckkissen zu meiner Puppe, das ich samt Inhalt als Tarnungs- und Transportmittel mitgebracht hatte. Bald darauf brauste es unter dem Fliederbusch in unseren Tassen. Noch einmal und noch einmal holte ich Zuckerwasser.
Beim Abendbrot weigerte ich mich wieder, die Milch zu trinken, die neben meinem Teller stand. "Ich habe wirklich keinen Durst!", behauptete ich nicht zu Unrecht. Es war mir jetzt auch egal, was man dazu sagte. Ich war so müde, daß mir die Augen zufielen.
Doch als Mutter mich zu Bett gebracht hatte und mit mir betete, fiel mir ein, daß ich unbedingt noch einmal in den Garten mußte; denn das Natron lag noch unter dem Rhabarberblatt. Leider erzählte mir Mutter an diesem Abend eine besonders lange Geschichte. Dabei schlief ich ein, ohne daß ich es verhindern konnte. Am nächsten Morgen war das Natron weg. Nur das welkgewordene Rhabarberblatt lag noch da. Und Bubi war mit der Essenzflasche auch erwischt worden. Werner Riemann: Leuchtturm von Pillau (Öl, um 1930; im Besitz des Ostdeutschen Landesmuseums Lüneburg, das noch bis zum 14. September einen Querschnitt aus dem Schaffen des in Königsberg geborenen Künstlers zeigt). Über Leben und Werk Riemanns (1893-1936) ist im Husum Verlag ein Buch erschienen: Ein Sommer an der Ostsee (72 Seiten, brosch. zahlr. Abb., 9,95 Euro) |
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