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Der Harz hat ein gesundes Reizklima. Aber nicht nur das, der Harz hat noch mehr zu geben. Wer einmal dem Zauber der herben Landschaft verfallen ist, kommt immer wieder hierher. Der Wanderer sollte sich Zeit nehmen und abseits der vielbesuchten Wege mit offenen Augen durch den Wald gehen. Er wird die Vielfalt der Natur erleben: Sonnige Höhen, aber auch düstere Klippen.
Unzählige Mythen und Sagen haben ihren Ursprung im Harz. So wird der einsame Wanderer - wenn er sich von Phantasie leiten läßt - auf dem Hexentanzplatz nicht nur auf den Spuren Goethes wandeln, sondern auch an anderen Orten ein Hauch von Walpurgisnacht spüren. Auf meinen Wanderungen durch den Harz sah ich fabelhafte Bilder. Ich belauschte den röhrenden Hirsch, majestätisch dastehend, sah das spielzeughafte Rehkitz possierlich dahintappen, war fasziniert von der Farbenpracht des Apollo (Schmetterling), der zitternd auf einem Blatt saß.
Wer solche Augenblicke erlebt, sollte ehrfurchtsvoll schweigen und dem Schöpfer und seinen Werken dankbar sein. Ein offenes Auge und ein waches Ohr bringen das Herz zum Schwingen, wenn sie mehr als nur Verständigungswerkzeug sind.
Durch einen glücklichen Zufall wurde mir während meiner sechsten Harzreise ein außergewöhnliches Geschenk zuteil. Ich verweilte auf einer Bank, um von der Wanderung auszuruhen - mein Blick ging zum Brocken. Unter mir floß eilig ein Bach; angeschwollen durch die Schneeschmelze gurgelte und rauschte er. Ich schloß die Augen und genoß die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne. "Vom Eise befreit ...", so kam es mir leicht über die Lippen. Ich träumte von der Schulzeit, wo das Vortragen der Verse Pflichtübung war - nun konnte ich es ungezwungen tun.
Mir kam der Gedanke an Goethe und Heine. Sie durften ungehindert zum Brocken gehen‚ höchstens mal stolpernd über Stock und Stein. Uns dagegen war der Weg dorthin lange Zeit verwehrt. - Heine nannte den Brocken den deutschen Berg, von der Geographie und vom charakteristischen Aussehen.
Ein schleifendes Geräusch riß mich aus meinen Gedanken - ich glaubte den Wind in Gräsern und Farnen zu hören.
"Habe ich Sie erschreckt?" fragte eine brüchige Stimme. Die Stunde der Geister war es doch nicht - hatte ich mich in meiner Phantasie verstiegen? - Ein grauer wuchernder Vollbart gab nur ein paar helle Augen und eine klobige Nase frei, ein abgegriffener Hut deckte das Ganze. Ein großer breitschultriger Mann, gekleidet in eine fleckige Lederjacke und eine abgewetzte Kordhose stand vor mir. "Nein, nein!" stotterte ich verlegen, "Sie haben mich nicht erschreckt."
"Sie machen hier Urlaub?" Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern fragte weiter: "Kennen Sie unseren Wald?"
"Ich bin das sechste Mal im Harz und jedes Mal sehe ich ihn anders - die sonnigen Höhen, die schattigen Plätze, die düsteren Klippen."
Und schon unterbrach er mich wieder. Ich werde mich aufs Zuhören verlegen, der alte Mann hat mir sicher viel zu sagen, dachte ich mir.
"Der Wald hat viele Gesichter. Ein Leben allein reicht nicht aus, um alles zu sehen und in sich aufzunehmen. Der Wandel vom Winter zum Frühling, vom Frühling zum Sommer, vom Sommer zum Herbst und endlich zum Winter ist jedes Mal ein neues Wunder - für uns Menschen kaum faßbar. Selbst für mich, der ich bei Regen und Wind Schutz unter dem grünen Blätterdach suche, meine erschöpften Glieder ins weiche Moos lege, mich von Beeren und Pilzen nähre - selbst für mich - erscheint der Wald täglich mit einem neuen Gesicht." - Wie er es sagte, klang es poetisch und voller Geheimnisse.
Ich wurde neugierig und fragte: "Wo wohnen Sie?"
"Im Wald - der Wald ist mein Zuhause", antwortete er.
"Erzählen Sie mir mehr von sich", bat ich.
Er begann von neuem: "Die Zeit, in der sich der Erste meines Stammes im Harz ansiedelte, liegt weit zurück. Die uralten Bäume sind Zeuge, nur hier können wir leben. Meine Urväter stammen aus dem Erzgebirge, sagt die Familienchronik. Mein Großvater war Köhler und außerdem ein Meister der Schnitzkunst - er brachte Holz zum Leben. So hatte er einen Zuverdienst, denn das Leben im Harz war zur damaligen Zeit nicht rosig.
Die Köhler liebten das einfache Leben, der Natur verbunden. Man dichtete ihnen allerhand an; viele Märchen kamen selbst aus ihrem Munde, Alleinsein regt die Phantasie an. Das Dorf sahen die Köhler manchmal wochenlang nicht, denn die Meiler mußten Tag und Nacht bewacht und versorgt werden.
Durch Fleiß und Ausdauer und handwerkliches Geschick kam mein Großvater zu einem kleinen Holzhaus. Er baute es an einen Fahrweg, auf dem die Fuhrknechte mit ihren Wagen vorbeikamen. Ob seiner Gastfreundschaft gelobt, wurde sein Haus bald zur Raststätte für alle, die dort ihren Weg nahmen.
Später wurde der holprige Weg der Holzknechte ausgebessert und befestigt, wegen der Wichtigkeit der Route wurde er bald zu einer vielbefahrenen Verkehrsstraße. Mein Großvater vergrößerte das Haus und erhielt das Recht, ein Wirtshaus zu betreiben.
Eine seiner Fertigkeiten hatte ich noch nicht erwähnt. Er war ein vorzüglicher Koch, aus dem Einfachsten machte er eine Köstlichkeit; seine Löwenzahnsuppe war berühmt.
Eine Posthalterei sollte an dieser Strecke errichtet werden. Mein Großvater hatte einen guten Ruf, und man bot ihm die Lizenz dieser Station an. Die räumlichen Voraussetzungen waren gegeben; es lockte der soziale Aufstieg in klingender Münze und er nahm guten Muts an.
Nun aber kamen auch vornehme Leute ins Haus und mit einfachen Suppen war es allein nicht mehr getan - man stellte Ansprüche. Hie und da sollte ein Braten auf den Tisch. Aber, woher nehmen, wenn nicht stehlen oder wildern, aber das war wohl dasselbe.
Ein kleines Stück nur, ein Kaninchen, was macht das schon. Es gab soviel davon im Wald und außerdem waren sie in der Überzahl auch noch eine Plage.
Als mein Großvater zur abendlichen Stunde die erste Schlinge legte, war er bereits dem Teufelswerk verfallen. Bei einem einzigen Stück blieb es nicht.
Die Gäste waren voll des Lobes, wegen des köstlichen Bratens - und das steigerte ihn immer mehr in seinen Rausch. Er schritt blindlings in sein Unheil. Mein Großvater wurde beim Wildern ertappt, er mußte für längere Zeit ins Gefängnis. Die Freiheit erlangte er als gebrochener Mann. Er ging tief in den Wald und wurde wieder Köhler. Die Scham machte ihn krank, zu seinem Tode war es nicht mehr weit."
"Ich langweile Sie sicher mit meiner Geschichte", unterbrach der Alte plötzlich, "sicher haben Sie was besseres zu tun."
"Keineswegs, ich versäume nichts und außerdem ist Ihre Geschichte sehr interessant."
"Nun ich bin auch gleich am Ende", und er fuhr fort: "Mein Vater war ein angesehener Hochschulprofessor in der Stadt, und ich sollte es ihm gleich tun. Doch was ist aus mir geworden? Ein grübelnder alter Mann!
Die Leute in der Umgebung nennen mich nur den kauzigen Alten.
Lange Jahre wohnte ich jenseits der verdammten Grenze; dort erlebte ich die große Völkerwanderung. Unzählige Male zeigte ich den Entwurzelten den Weg gen Westen. Eines Tages erwischte mich die Polizei bei der menschlichen Hilfeleistung und ich wurde dafür bestraft.
Nach verbüßter Haft durfte ich nicht wieder zurück in mein Haus, denn es lag im Sicherheitsgebiet - später hat man es abgerissen. Ich ging den gleichen Weg wie viele Tausende vor mir - ich war einer von vielen Heimatlosen."
"Wovon leben Sie - ich meine, wie kommen Sie zu Geld?" fragte ich.
"Ich sammle Beeren und Pilze und verkaufe alles in der nahen Stadt. Und außerdem betreibe ich noch einen Meiler. So schließt sich der Bogen von meinem Großvater zu mir. Der da oben hat es so gewollt."
Er sah mich eindringlich an, als wollte er eine Antwort hören. Doch bevor ich dazu kam, schloß er: "Sie haben einem alten Mann zugehört und Ihre kostbare Zeit geopfert. Ich bin Ihnen sehr dankbar!"
"Ich hätte diese Stunde nicht besser nutzen können. Für mich war es eine glückliche Stunde mit einem liebenswerten alten Mann."
Mit strahlenden Augen verabschiedete er sich. Erzählen und zuhören hatten zwei Menschen glücklich gemacht. |
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