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Deutsche Zwangsarbeiter

 
     
 
Im Herbst 1997 begann Ewa Betkowska damit, den Aktenbestand der zur Liquidierung vorgesehenen Grube Porabka-Klimontow bei Sosnowitz zu sichten und für die Überführung in das Staatsarchiv Kattowitz vorzubereiten. Keine spannende Arbeit für eine junge Diplomarchivarin. Eines Tages stieß sie allerdings auf einen Fund, der nicht in das typische Bild von angestaubten Grubenakten zu passen schien.

Zu ihrer Überraschung war dieser Fund trotz seines Alters in einem guten und gepflegten Zustand: Holzkästen mit Tausenden von Karteikarten und mehrere Kisten mit der Aufschrift "UNRA", in denen Mikrofilme lagen. Nach kurzer Durchsicht war ihr klar, daß es sich hier um eine große Zahl bürokratisch dokumentierter Menschenschicksale handelte, nämlich um fast 14 000 deutsche Zwangsarbeiter
, die von 1945 bis 1949 im kleinpolnischen Revier in den Gruben arbeiten mußten – zumeist Wehrmachtssoldaten, aber auch Alte, Frauen und Sechzehnjährige. Mindestens 1000 Namen von Toten geben die aufgefundenen Listen preis, samt Todesursache und der detaillierten Angabe von sechs Massengräbern, die in beiliegenden Landkarten genau verzeichnet sind.

Insgesamt waren zwischen 1945 und 1951 etwa 40 000 deutsche Kriegsgefangene und 7000 Zivilisten in den oberschlesischen und kleinpolnischen Gruben als Zwangsarbeiter beschäftigt. Nach Schätzungen polnischer Historiker waren an ca. 30 Gruben Arbeitslager angeschlossen.

Wohl nicht ohne Grund wählte Frau Betkowska nicht den vorgeschriebenen Dienstweg, der sie zum Staatsarchiv hätte führen müssen. Statt dessen ging sie am 26. Juni 1998 zu Dietmar Brehmer, dem Vorsitzenden der in Kattowitz ansässigen "Deutschen Arbeitsgemeinschaft Versöhnung und Zukunft". Man war sich einig: Die Familien der deutschen Zwangsarbeiter mußten auf jeden Fall erfahren, was mit ihren Angehörigen geschehen war. Brehmer wollte den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes informieren, Historiker sollten eingeschaltet werden. Er berichtete auch dem Staatsarchiv von dem Fund, den ihm eine "unerkannt gebliebene Person" übergeben habe.

Am 29. Juni gab Brehmer in Kattowitz eine Pressekonferenz, auf der er das Material präsentierte. Zwölf Tage später tauchten plötzlich Vertreter des Staatsarchivs, der Staatsanwaltschaft und des Verfassungsschutzes UOP auf und forderten in einem achtstündigen Gespräch die sofortige Herausgabe der Karteikarten und der Mikrofilme, zudem den Namen der "geheimnisvollen Zuträgerin". Um Betkowska nicht zu gefährden, fügte sich der Verein und übergab das Material an Zygmunt Partyka, den Leiter des Staatsarchivs.

Nun begann ein bemerkenswertes Versteckspiel: Am 13. Juli teilte die Staatsanwaltschaft mit, daß 10 613 Karteikarten gezählt worden seien, fast 3000 weniger als noch eine Woche zuvor von mehreren Personen festgestellt worden war. Die UOP begründete ihr ungewöhnliches Interesse an der Sicherstellung damit, daß man die "geraubten" Karteikarten vor der "Zerstörung" (durch Brehmer) habe bewahren müssen.

Den Vorschlag, doch eine Totenliste zu veröffentlichen, um den betroffenen Familien Gewißheit zu verschaffen, lehnte das Staatsarchiv mit der Begründung ab, daß das Datenschutzgesetz die Freigabe der Namen von Toten untersage. Die Datenschutzbehörde wiederum hielt dem entgegen, daß ein solches Gesetz gar nicht existiere. Auf Nachfrage von Journalisten gab ein Sprecher dann zu verstehen, daß das Material nicht eingesehen werden könne. Zunächst müsse Platz geschaffen und die Karteikarten dann sorgfältig bearbeitet werden – und das könne dauern. Man habe bereits vor einigen Jahren Listen mit den Namen von 20 000 Zwangsarbeitern aus drei oberschlesischen Grubenarchiven erhalten, und die seien im Staatsarchiv noch immer nicht gesichtet worden.

Zwischenzeitlich wurde bekannt, daß der Verfassungsschutz UOP bereits Anfang Juli 1998 komplette Unterlagen mit Beweismitteln der Staatsanwaltschaft vorlegen konnte, inklusive der Identität der "geheimnisvollen Zuträgerin" und des langjährigen Lagerortes der Kisten. Bis dahin lautete die offizielle Version, das Staatsarchiv hätte Anzeige erstattet und die UOP über den Fall informiert.

Unterdessen erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Ewa Betkowska. Man warf ihr vor, die Dokumente verheimlicht und beseitigt zu haben. Der Gerichtstermin wurde auf den 24. Februar festgelegt. Am Abend vor der Verhandlung nutzte Dietmar Brehmer noch einmal seine deutschsprachige Sendung im Kattowitzer Radio, um auf die eigenartigen Vorgänge aufmerksam zu machen. Wenige Stunden später flog ein Brandsatz in das Vereinsbüro. Die Kriminalpolizei stellte diese Attacke ohne weitere Ermittlungen in einen Zusammenhang mit einer Reihe anderer Anschläge, die wenige Tage vorher auf die Bezirksverwaltung, die Restrukturierungsbehörde und die Geschäftsstelle der größten regionalen Bank verübt worden waren.

Aber gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag auf einen kleinen Verein und denen auf mächtige Institutionen, die mit der Liquidierung der Bergbauindustrie und dem damit verbundenen Abbau von Zehntausenden von Arbeitsplätzen in Verbindung gebracht werden? Oder hatte die UOP ihre Finger im Spiel? Sollte Brehmer vor weiteren öffentlichen Protesten gewarnt werden? Oder sollten jene Kopien von Totenlisten vernichtet werden, die dieser vor der Beschlagnahmung in einer Nacht- und Nebel-Aktion hatte anfertigen lassen?

Die "Gazeta Wyborcza" und lokale Medien kolportieren inzwischen die Vermutung, daß die UOP und ihre kommunistische Vorgängerorganisation von Anfang an die Listen der verstorbenen Häftlinge dazu benutzten, Geheimdienstmitarbeitern neue Identitäten zu verleihen, um diese sicher in die Bundesrepublik Deutschland einzuschleusen.

Derlei Spekulationen erhalten neue Nahrung durch die Tatsache, daß es inzwischen schon eine ganze Anschlagsserie gegen das Büro der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft Versöhnung und Zukunft" gibt. Nach dem jüngsten Einbruch in der ersten Aprilhälfte klagte Brehmer gegenüber dpa: "Es handelt sich um den siebten Übergriff gegen uns innerhalb der vergangenen 14 Monate. Unsere Mitarbeiter sowie Kunden fühlen sich durch die Übergriffe eingeschüchtert." Nach Angaben der Vereinigung wurden u. a. zwei Computer und eine Datenbank mit Angaben über Mitglieder gestohlen.

Ewa Betkowska, mit deren Ahnung, daß der Dienstweg nicht immer der richtige sein muß, die Geschichte begann, wurde inzwischen zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt.

 
     
     
 
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