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Deutschland im Niemandsland

 
     
 
Jürgen Leinemann, vormals Redakteur des Spiegels, plagten "unersättlicher Hunger nach Anerkennung und Bestätigung", Selbstzweifel, Versagensängste, Arbeitsüberlastung. Grübelnd bohrte er nach den persönlichen Unkosten der Karriere und begann zu trinken.

Nun diagnostiziert Leinemann die politische Klasse in Deutschland. Zahlreiche Politiker verfielen dem "Machtrausch", der, ähnlich wie Alkoholkonsum, zum Realitätsverlust führe. Politiker strebten danach, möglichst viele Wähler zu gewinnen, und diese Eigenart verstärke ihren opportunistischen Drang, sich wenig zu profilieren, um niemanden abzuweisen. Somit beherrschen uns "routinierte Manager der Macht", die Krisen bloß verwalten, weder große Ziele anvisieren noch Projekte
entwerfen. Verlieren sie die Macht, folgen Entzugserscheinungen.

Als Prototypen des verwaschenen Technokraten, der redet, ohne etwas zu sagen, betrachtet der Autor neben anderen Genscher und Schröder. Der Kanzler wolle zeigen, daß er fähig sei, die höchsten Ämter zu erreichen, "mehr nicht".

Abgekapselt schwebte das monumentale "Raumschiff Bonn" in Berlin nieder. Schröder verkenne die historische Bedeutung Berlins. Die Stadt verleihe, so resümiert Leinemann, der Regierung bisher keine Prägekraft. Deutschland taumle seit der Wiedervereinigung im Niemandsland der Unsicherheit und gewinne nur mühsam Identität.

Ältere Generationen, durch die Leiden der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkriegs traumatisiert, aber auch gereift, verfolgten noch politische Ideale, die jenseits individuellen Ehrgeizes lagen. Heute repräsentieren Medien-Schreihälse, denen jeder "authentische Kern" fehle, etwa Guido Westerwelle, die jüngere Generation. Leinemann porträtiert, ohne sensationell Neues zu berichten, Dutzende deutscher Politiker der Nachkriegszeit.

Außer Zweifel stehen die Dürre und programmatische Inhaltsleere der Obrigkeit. Wer wollte Leinemann hier widersprechen? Die ganze Malaise an das Stereotyp der "Sucht" zu fixieren, genügt jedoch bei weitem nicht. Viel zu geradlinig überträgt der Autor persönliche Suchterfahrungen mit dem Elend der politischen Klasse. Sogar Bismarck meinte, daß Politik ihn süchtig mache. Dennoch - oder gerade deshalb - war Bismarck ein großer Staatsmann, zumal erst die Leidenschaft das Besondere ermöglicht. Der Nachweis, daß "Sucht", die unklar definiert wird, stets Realitätsflucht verursache, gelingt nicht. Machtstreben gab es bekanntlich immer.

Die fatale Neigung, Realitäten gering zu schätzen, wurzelt eher in den Tiefen deutscher Geschichte. Bisweilen erstickt der kolossale Umfang des Buches - fast 500 Seiten - gedankliche Schärfe und Originalität.

Leinemann versäumt es nicht minder, konsequent zu untersuchen, ob die luftige Existenz der Berufspolitiker mangelnder Demokratie entspringen könnte. Statt dessen hält er das politische System für unreformierbar und weiß keinen Rat. R. Helfert

Jürgen Leinemann: "Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker", Karl Blessing Verlag, München 2004, 491 Seiten, 20 Euro
 
     
     
 
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