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Die Katastrophe die nicht stattfand

 
     
 
Man fühlt sich an den Silvester-Dauerbrenner "Dinner for one" erinnert: jedes Jahr dieselbe Prozedur. Im Frühsommer wird die Lehrstellenkatastrophe beschworen, im Spätsommer drohen Politiker jeglicher Couleur der bösen Wirtschaft allerlei Höllenqualen (Ausbildungsabgabe usw.) an, im Frühherbst entschwindet das Thema dann auf wundersame Weise aus dem öffentlichen (veröffentlichten) Diskurs.

In diesem Jahr waren die Zahlen sogar besonders eindrucksvoll: Gut 340.000 Lehrstellenbewerber hatte die Bundesanstalt
für Arbeit ausgemacht, denen nur knapp die Hälfte an offenen Lehrstellen gegenüberstand. Zwischen Angebot und Nachfrage klaffte angeblich eine Lücke von über 170.000. Kanzler Schröder drohte mit alten Rezepten und neuen Gesetzen. Eher zwischen den (Schlag-)Zeilen erfuhren aufmerksame Beobachter, daß die Nürnberger Bundesanstalt, die inzwischen von den Berliner Reformern zur "Bundesagentur" veredelt wurde, von letztlich schlimmstenfalls 70.000 Bewerbern ohne Stelle ausging; derweilen wurde die richtige Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft - 20.000 bis 30.000 - in den Medien belächelt oder als Schönfärberei abgetan. Gestört wurde das politisch korrekte Katastrophenbild nur durch die Resultate einer Untersuchung der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel, derzufolge über 50 Prozent aller Hauptschüler überhaupt nicht ausbildungsfähig sind. In diesen Zusammenhang gehören auch folgende Zahlen: Zehn Prozent aller Schulpflichtigen sind "aktive Schulschwänzer", 15 Prozent aller Jugendlichen zwischen zwölf und 18 sind psychisch krank beziehungsweise verhaltensgestört. Insgesamt sind das weitaus mehr als jene zuletzt 20.000 Bewerber, die - oft aus einem der genannten Gründe - noch keine Lehrstelle haben.

Was hinter diesen Zahlen steckt, ist die wahre Katastrophe (und nicht jene Lehrstellenkatastrophe, die wieder einmal nicht stattfand). Die Schuld einseitig bei der Jugend selbst oder der Schule zu suchen, wäre allzu billig - in aller Regel haben diese Kinder nämlich nicht nur Lehrer, sondern auch Eltern! Juliane Meier
 
     
     
 
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