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Einer der Klosterbewohner, den ich treffe, ist Vater Sawwa. Ein Mönchspriester, der seit seinem 18. Geburtstag hier lebt. Heute ist er 31 Jahre alt. Vater Sawwa stammt aus Lipetsk in Zentralrußland. Seine Berufung zum Priester in der 80er Jahren empfindet er nach wie vor als "unfaßbares Geheimnis, das rasend schnell über ihn gekommen" sei "und plötzlich alles verändert" habe. Für seine Familie und die Freunde, damals eher ungläubig, sei es ein Schock gewesen, dennoch habe ihn niemand an seinem Weg hindern wollen. Heute gehe die Familie selbst in die Kirche. Nach Priesterseminar und theologischer Akademie wurde er 1998 Klostermönch; 1999 erhielt er die Mönchsweihe. Er gehört damit dem "schwarzen" Klerus an, im Unterschied zum "weißen". Für Vater Sawwa, bedeutet das, daß er in der Hierarchie aufsteigen kann, die anderen dürfen "nur" heiraten, auch sie sind auf dem Klostergelände zu finden, meist erkennt man sie daran, daß sie ein Kleinkind im Wagen vor sich her durch den Schnee schieben.
Auf meine Frage, wie er das Wiedererwachen seiner Kirche einschätze, unterscheidet Vater Sawwa zwischen dem äußeren Bild dieses Prozesses, zu dem der Wiederaufbau völlig verschwundener Kirchen ebenso gehöre wie die Rückgabe beschlagnahmter und zweckentfremdeter Kloster- und Akademiegebäude sowie der fundamentalen Tatsache, daß keine Verfolgung mehr stattfinde. Andererseits sei aber gerade die lange und harte Verfolgung ein Faktor, der es schwer mache, die dadurch entstandenen Lücken zu füllen: "Die Traditionen sind versickert. Viele von denen, die neu zu uns kommen, verstehen den Kern des Glaubens nicht mehr. Der Kern ist, daß die Kirche dem Menschen hilft, zwischen gut und böse zu unterscheiden."
Was tut ein Priestermönch dafür? frage ich. Die klare Antwort: "Ununterbrochen Dienst: Gottesdienst e zelebrieren, Beichte abnehmen, beten. Das Gebet ist die Hauptaufgabe. Gott öffnet die Augen im Gebet radikal, und deshalb spürt und sieht der Mönch die Tragödie der Welt viel intensiver. Sein Gebet ist Hilfe für die Welt. Die Welt existiert nur durch die Gebete der Mönche - deshalb geht sie auch nicht unter. Aber das kann der Mönch nur, weil er sich von der Welt zurückzieht. Wenn ein Mönch zuviel Zeit und Kraft in äußere Ereignisse investiert, dann ist die notwendige Reinheit des Gebets nicht mehr gegeben."
Die Priester im heutigen Rußland zelebrieren ihre Gottesdienste nicht mehr vor kleinen Gemeinden, die primär aus alten Mütterchen bestehen. Die Kirchen sind voll, auch an den Tagen, da ich sie in Moskau betrete, mitten in der Woche und am hellichten Tag. Junge und Alte, Männer und Frauen, ganze Schulklassen strömen in Gotteshäuser, die einst als Kinos mißbraucht wurden, als Lagerhallen, Schwimmbäder, Atheismus-Museen oder ganz verschwunden waren. Nun stehen sie wieder in alter Pracht, als ob nichts gewesen wäre. Ein Kommen und Gehen herrscht in ihnen, geduldige Schlangen vor berühmten Ikonen, Sarkophagen und Reliquienschreinen. Stundenlange liturgische Gesänge von Priestern und Nonnen, Weihrauch, warmes Licht von zahllosen Kerzen durchflutet die Gewölbe, reflektiert auf dem Gold der Wände, Säulen und Bilder, dazwischen Gläubige, die mit immer tieferen Verbeugungen das Kreuz schlagen, Gebete murmeln oder fast körperlich mit der geistlichen Kraft der Ikone verschmelzen wie jene Frau in der Neuen Kathedrale des Donskoi-Klosters, deren Gesicht mir verborgen blieb und das dennoch bewies: Die Ikone gibt nicht den subjektiven Eindruck dieser Welt wider, sie ist Ausdruck einer transrealen Welt, der Wirklichkeit Gottes. Diese transreale Welt ist in Rußland zurückgekehrt in die geschichtliche, aus der sie endgültig vertrieben werden sollte.
Daß die Geschichte von ihm und niemandem sonst gemacht wird, wollte Lenins Nachfolger Stalin im Jahre 1931 auch an der Christi-Erlöser-Kathedrale beweisen. Die mächtige Kirche, südwestlich vom Kreml gelegen, war zwischen 1839 und 1883 aus Dankbarkeit für die Errettung Moskaus vor Napoleon gebaut worden und mit 103 Meter Kuppelhöhe das seinerzeit höchste Gebäude der Stadt. Die Grundfläche von 9.000 Quadratmetern konnte mehr als 10.000 Gläubige fassen.
Stalin befahl, wie zuvor schon so oft, den Abriß auch dieses Gotteshauses und die Errichtung eines gigantischen Sowjetpalastes von über 300 Metern Höhe. Von dort aus sollte sich schließlich eine 100 Meter hohe Lenin-Statue in den Himmel erheben und den atheistische Triumph vollenden. Doch dann wurde das Projekt eingestellt und zurück blieb eine gewaltige Baugrube, aus der für einige Jahre Moskaus größtes Schwimmbad wurde. Später schüttete man es zu, über den gigantischen Platz fegten die eisigen Winterwinde, von einer Kirche größten Ausmaßes keine Spur, als hätten Tataren sie niedergebrannt, bis tief ins Erdinnere.
Mitte der 90er Jahre aber begann das Wunder der Wiederauferstehung der Christi-Erlöser-Kirche. Ermöglicht durch private Spenden und staatliche Gelder, wurde die Kirche, wie so viele andere zerstörte auch, originalgetreu wiedererrichtet und im Jahre 2000 unter Anwesenheit von Staats- und Kirchenführung durch Patriarch Aleksij II. geweiht, der seit den 80er Jahren wieder im Danilow-Kloster seinen Amtssitz hat, das in der Ära der Kommunisten unter anderem auch als Gefängnis diente. Heute bewachen Kosaken das Kloster und Rußlands höchsten Geistlichen. Vor seinem Amtssitz weht neben der Nationalflagge, der russischen Trikolore, auch eine Fahne mit dem Bild des Heiligen St. Georgs, jenes Ritters, der der Legende nach mit seiner Lanze vom Pferd herab das Böse in Drachengestalt durchbohrte.
Doch der staunende Besucher stößt, wenn er die Christi-Erlöser-Kathedrale betritt, nicht nur auf eine Kirche an diesem Platz: Der Abgrund der stalinschen Baugrube hat es ermöglicht, unter der Erlöser-Kirche eine zweite, eine Art Katakombenkirche zu errichten, dazu einen Kongreßsaal und ein Museum. In ihm kann man Fotografien und Dokumente zur Zerstörungsgeschichte ebenso finden wie die hybriden Baupläne und Zeichnungen des nie verwirklichten Sowjetpalastes. Aber auch Schutzhelme und Werkzeuge der Erbauer der neuen Erlöser-Kirche.
Was sechs Jahrzehnte aus Stadtbild und Bewußtsein getilgt schien, ist nach nur fünf Jahren Arbeit von Maurern, Betoniers, Marmorexperten, Architekten, Ikonenmalern und Mosaiklegern, Goldschmieden und Glockengießern in alter, ja verdoppelter Pracht ans Licht zurückgeholt worden.
Und als deutscher Betrachter der seelenerhebenden Szenerie kommt einem sogleich das unwürdige Schauspiel zu Bewußtsein, das bislang den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses verhindert hat. Es könnte jedenfalls kein überzeugenderes Symbol für die Wiederauferstehung der orthodoxen Kirche Rußlands geben als diese Kathedrale, in der sich an hohen kirchlichen Feiertagen der Patriarch Rußlands Seite an Seite mit den Präsidenten Rußlands zu gemeinsamer Feier des Gottesdienstes versammelt.
Der Mann, der solche Bilder für Rußland ein für allemal verhindern wollte, liegt nicht weit entfernt davon in seinem Mausoleum am Roten Platz - einbalsamiert und zu besichtigen wie ein Museumsgegenstand.
Als ich die schwarzen Treppen des schwarzen Totentempels hinabschritt, wurde ich das Gefühl nicht los, den Hades zu betreten, die Unterwelt aller Menschen-Geschichte. Stumm standen Soldaten an den Wänden, bis ich ins Zentrum vorgedrungen war und ihn endlich sah: den "Tartar, rot von Haaren", wie Marina Zwetajewa einst dichtete, in seinem gläsernen Sarg, in rötlich glimmendes Licht gehüllt. Wenn der Diabolos, der Durcheinanderwerfer, wie die Griechen ihn nannten, ein Gesicht hat, dachte ich: Hier wäre es zu finden! Und so erst gewönne der düstere Ort einen Sinn.
"Unfaßbares Geheimnis, das rasend schnell" über ihn kam: Vater Sawwa arbeitet im Refektorium des Segius-Klosters bei Moskau. Der 31jährige Mönchspriester aus Zentralrußland fühlte sich schon als Minderjähriger zu Gott berufen. Seit seinem 18. Geburtstag lebt und arbeitet er nun für die russisch-orthodoxe Kirche und natürlich für Gott. |
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