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Die Reise nach Allenstein

 
     
 
Auch in Masuren hat es seinerzeit die eine oder andere Ortschaft gegeben, deren Bewohnern man gern nachsagte, sie seien rechte Schildbürger. Wer so etwas behauptete? Nun, das taten in erster Linie die "lieben Nachbarn", die in den umliegenden Dörfern und Abbauten ihr Zuhause hatten. Sie wußten jedenfalls stets ein paar "Stückchen" zu erzählen, die sich "die anderen" in ihrer Tolpatschigkeit geleistet hatten. Ob sie dabei immer strikt bei der Wahrheit blieben, darf bezweifelt werden. Eher ist anzunehmen, daß so manches der eigenen Phantasie entsprungen und hinzugedichtet worden war.

Wie auch immer - der Ruf, eine Art Schilda zu sein, hing unter anderem einem Dörflein an, welches hier Gruschinen genannt werden soll. Dort waren so etwa 300 Menschen ansässig; zumeist Bauern, Kätner, Handwerker und Forstarbeiter samt ihren Frauen und Kindern. Dieses Gruschinen nun lag ziemlich versteckt inmitten dichter Wälder und zwischen zwei kleinen Seen tief hinten im Masurischen. Die einzige Verbindung zur "Außenwelt" bildete eine Chaussee
, die im Sommer arg staubig und löchrig und im Winter wegen hoher Schneewehen über Wochen hinweg unpassierbar war. Was Wunder, daß die Leutchen, die fast ihr ganzes Leben in solcher Abgeschiedenheit zubrachten, als ein wenig hinterwäldlerisch verschrien waren. Zu ihnen zählten etwa der Heinrich Surkus und seine Ehefrau Frieda. Die beiden bewirtschafteten seit nahezu 40 Jahren einen mittelgroßen Bauernhof in Gruschinen und nährten sich und ihre fünf Kinder rechtschaffen durch ihrer Hände Arbeit. Lediglich im Frühjahr und im Herbst spannten sie zwei Pferdchen vor den Kastenwagen, um in die Kreisstadt zu fahren und ein paar notwendige Dinge einzukaufen.

Der Heinrich und die Frieda Surkus wußten es nicht anders und waren deshalb zufrieden. Aber dann geschah es, daß sie doch eine größere Reise antraten und zwar auf Wunsch ihrer Kinder. Die waren inzwischen herangewachsen und standen auf eigenen Beinen. Einer der Söhne tat Dienst bei der staatlichen Eisenbahn. Und von ihm, der seine blaue Uniformmütze mit der bunten Kokarde voller Stolz auch in seiner Freizeit kaum einmal absetzte, stammte der Vorschlag, den Eltern gemeinsam eine Art Urlaubsreise zu schenken. "Ich krieg", so sagte er, "die Fahrkarten zum halben Preis. Wird also nich allzu teuer die Sache." Damit gewann er die vier Geschwister für seinen Plan. Jeder steuerte ein paar Mark bei, so daß die finanzielle Seite schnell geregelt war. Vater und Mutter wurden vor vollendete Tatsachen gestellt und alle Einwände der beiden Alten nutzten rein garnuscht.

So konnte sie also beginnen, die Reise, welche zwar nicht in die große weite Welt führen sollte, aber immerhin bis nach Allenstein und das bedeutete schon einiges. Handelte es sich doch um die "Metropole" eines ganzen Regierungsbezirks mit damals rund 50.000 Einwohnern. Und eben dorthin war das biedere Paar aus Gruschinen unterwegs, wohlversehen mit vielen guten Ratschlägen sowie einem Packen von Butterbroten und einem tüchtigen Stück vom geräucherten Schinken. Dieser Proviant reichte exakt für die knapp dreistündige Zugfahrt aus. Da standen sie denn auf dem Bahnhof von Allenstein, die Frieda und der Heinrich Surkus, etwas ratlos, doch ebenso staunend über das viele Neue, das auf sie einstürmte. Mit großen Augen schauten sie sich um, überall war Betrieb und man konnte manches Erstaunliche beobachten. Die Bäuerin fand als erste die Sprache wieder: "Du, Alterchen", sagte sie, "trampel mal nich so laut daher. Könnt sein, daß du mußt Strafe zahlen." Ihr Ehemann fragte verwundert: "Strafe? Warum denn?" Seine Frau stupste ihn an: "Da, guck nur das Schild. Da steht: Achtung - Ge ... leise. Paß bißchen auf also!"

Das tat ihr Heinrich, obwohl es ihm schwerfiel. Denn er trug derbe Bauernschuhe mit genagelter Sohle. So stapfte er denn sachte voraus und versuchte, möglichst lautlos aufzutreten. Diese Bemühungen wurden noch verstärkt, als den beiden ein Gendarm in Uniform und mit dem Tschako auf dem Kopf entgegenkam. Doch das wäre nicht nötig gewesen, denn der Herr Wachtmeister entpuppte sich als wahrer Freund und Helfer; er begleitete das Paar bis zu dem Gasthof, in dem sie Unterkunft für die Nacht erhalten sollten. Richtig, hier war ein Zimmerchen bestellt, in dem das geringe Gepäck der Reisenden verstaut werden konnte.

Unterdessen war die Zeit für das Mittagbrot gekommen. In der Gaststube legte die Bedienungsmarjell die Speisekarte vor, die gründlich durchforscht wurde. Das heißt, Friedchen las vor, was alles geboten wurde und zu welchem Preis. Es ging los mit "Erbsensuppe, kostet 30 Pfennig". Doch Heinrich winkte sofort ab: "Erbsensuppe, krieg ich zuhaus oft genug. Gibt nich was anderes?" Natürlich gab es das, etwa: "Karbonade mit Kartoffeln und Sauerkraut, eine ganze Mark die Portion." Wieder Kopfschütteln: "Gibt bei uns in Gruschinen auch immer, wenn wir ein Schweinchen geschlachtet haben."

Man sieht, Heinrich Surkus war ein Feinschmecker. Denn auch die anschließend offerierten "süßen Keilchen" für fünf Dittchen lehnte er ab: "Ich möchte was, was ich nich krieg zu Hause." Seine Frau war der Verzweiflung nahe. Und dann fand sie doch das Richtige: "Auf der Kart steht noch: Menu-e. Das kennst bestimmt nich , Alterchen. Ist sicher ganz was Feines und Vornehmes und kosten tut es auch am meisten. Eine Mark und noch fünf Groschen." Diesmal war ihr Mann zufrieden. Und so wurde die Bestellung aufgegeben. Dieses "Menue" kam und es bestand aus Erbsensuppe, Karbonade mit Sauerkraut und süßen Keilchen als Nachtisch.

Es schmeckte ihnen trotzdem nicht schlecht und reichlich war es auch. So gesättigt zog das Pärchen los, denn auf dem Programm stand nun der kulturelle Höhepunkt dieser Reise nach Allenstein, ein Kinobesuch nämlich. Schon die bunten Plakate im "Lichtspielhaus Gloria" ließen erahnen, welch ein Kunstgenuß bevorstand. Doch selbst hier steckte der Teufel im Detail. Denn angekündigt wurde: "Die Räuberbraut oder Der Baron und das Mädchen", Heinrich Surkus schüttelte darob verdrießlich den Kopf: "Komisch", sagte er, "sehr komisch, in halber Stund soll s losgehen, dies Kino, und sie wissen noch nicht mal, was sie zeigen wollen ... "

Friedchen, seine Frau, war unterdessen auf ein noch gewichtigeres Hindernis gestoßen. "Da geh n wir nich rein", verkündete sie energisch und als ihr Mann erstaunt aufblick-te, zeigte sie auf einen Zettel neben der Kasse, auf dem stand: "Programm fünf Pfennig". "Nei, nei", erklärte sie, "pro Gramm fünf Pfennig, das ist viel zu teuer. Kannst ausrechnen, was für dich allein kostet, Alter. Wo du doch fast zwei Zentner wiegen tust." Um es kurz zu machen, all diese Schwierigkeiten wurden schließlich aus dem Weg geräumt und das "Schildbürger Paar" aus Gruschinen kam doch noch in den Genuß des ersten Kinofilms seines Lebens.

Noch am nächsten Morgen schwärmte Frieda Surkus von dem "vornehmen Herrn Baron", und ihr Mann stellte sich immer wieder die kesse Räuberbraut vor. Gemeinsam ging es nach dem Frühstück auf einen Einkaufsbummel, denn man wollte dieses und jenes erstehen, das man in Gruschinen nicht bekommen konnte. In Allenstein aber war die Auswahl riesengroß und Geschäfte gab es schier ohne Zahl. Sie entschieden sich schließlich für das "Kaufhaus Kurella und Co.", welches auf drei Etagen nahezu alles anbot, was das Herz begehren mochte.

Kaum waren sie durch die Tür getreten, als ein junger Mann in Anzug mit Weste und bunter Krawatte um den Hals auf sie zukam und fragte: "Was wünschen Sie?" Heinrich kriegte den Mund vor Erstaunen nicht auf, aber sein couragiertes Frauchen legte sofort los: "Also, Herr Kurella und Co., wo - bitteschön - gibt s hier Regenschirme?" Der Jüngling strich sich über sein pomadisiertes und in der Mitte gescheiteltes Haar und schnarrte kurzangebunden: "Erster Stock." Doch unerschrocken fiel ihm die gute Frieda in die Parade: "Nei, nei, junger Herr. Erst der Regenschirm, nich erst der Stock. Stöcke hat mein Mann genug, alle selbstgemacht aus Kaddigholz."

Auch dies klärte sich nach einigem Plachandern auf und als die guten Leutchen wenig später "Herrn Kurella und Co." samt seinem Kaufhaus verließen, schwenkte Frieda Surkus stolz einen grün und gelb gestreiften Regenschirm, obwohl die Sonne am Himmel stand. Doch es mußte noch eine weitere Anschaffung getätigt werden. Dabei handelte es sich um einen Spiegel für die gute Stube daheim in Gruschinen; der alte war nämlich bei der Hochzeit des Hoferben zu Bruch gegangen.

Aber schnell und ohne größere Schwierigkeiten wurde dies Geschäft abgewickelt und ein Spiegel mit "vergoldetem" Rahmen erstanden. Höflich fragte der Verkäufer: "Soll ich das gute Stück einschlagen?" Diesmal nahm Heinrich das Wort: "Aber nich doch, Mannchen. Bloß nich einschlagen. Kaputten Spiegel haben wir schon." Nun, der Kauf wurde dann doch "eingeschlagen" und Stundchen später saß ein zufriedenes Paar mit allen Anschaffungen auf der Fahrt nach Hause im Eisenbahnabteil für "Reisende mit Traglasten".

Und daheim mußten Frieda und Heinrich Surkus in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder von ihrer Reise nach Allenstein und den dabei glücklich bestandenen Abenteuern erzählen. Sie taten es gern und ausführlich und mit der Zeit wurde ihre Schilderung sogar etwas ausgeschmückt und bunter. Natürlich drang dies alles auch in die umliegenden Ortschaften und dort verfestigte sich die Überzeugung, daß die Bewohner von Gruschinen mit Fug und Recht als "masurische Schildbürger" bezeichnet werden konnten.

 
     
     
 
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