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Das Gesicht ist die Seele des Körpers“, urteilte der menschenkundige Sprachphilologe Ludwig Wittgenstein, aber selbstverständlich lag auch schon für Cicero „alles“ im Antlitz. Es scheint also lohnenswert, sich mit dieser Spiegelfläche des Geistes umfassend zu beschäftigen. Denn in der Tat, wer etwa die Gesichter von Vertreibungsopfern in einschlägigen Dokumentarfilmen je gesehen oder gar dieses furchtbare Geschehen selbst miterleben mußte, wird einräumen, daß das seelische Geschehen immer auch durch das Gesicht läuft. Ein anders Exempel, um im Bereich politischer Geschehnisse zu bleiben, lieferte der Fall der Mauer: Wildfremde Menschen, Deutsche, fielen einander in die Arme, jubelten, jauchzten. Hofften noch auf eine bessere Zukunft ...
Freude und Trauer, Hoffnung und Schönheit, Krankheit und Liebe, wer würde daran zweifeln, nicht hier den tief im Innern eines Menschen wirkenden seelischen Prozeß nicht im Äußeren, im Gesicht, ablesen zu können. Inzwischen weiß man sogar aus der psychosomatischen Medizin, daß jede geistig-seelische Regung den Menschen in seiner Gesamtheit formt, jeder noch so kleine Muskel ist Träger und Spiegel solcher Impulse.
Dieses gesamte Wechselspiel zwischen Anatomie und Psyche, wie sie die Zeugnisse verschiedener Epochen etwa aus Literatur oder bildender Kunst bekunden, hat der Wissenschaftspublizist Daniel McNeill zu einem Buch unter dem Namen „Das Gesicht“ zusammengestellt. Entstanden ist dabei eine amüsant zu lesende Kulturgeschichte, die mit einer Vielzahl von Erkenntnissen aus Psychologie, Physiologie, Evolutionsforschung und Soziologie imponieren will. Ein durchaus zulässiges, wünschbares und damit auch hochwillkommenes Anliegen, das seinen Platz längst gefunden haben sollte. Doch so fleißig auch der Autor im Zusammentragen von Material war, so enttäuscht doch die wohl anglo-amerikanische Manier des Autors, der übrigens Träger des „Los Angeles Times Book Price für Wissenschaft und Technologie 1992/93“ ist, leider durch zu oberflächliches Beleuchten jener vordergündigen Elemente, die zudem noch allesamt im Aufspüren dortiger vordergründiger Schönheitsideale einmünden.
Um das Faszinosum „Gesicht“ zu ergründen, schien ihm die Kunst des Porträtierens, als Bannen der Seele auf Leinwand, besonders geeignet, den Code menschlicher Ausstrahlung aufzuspüren, führen künstlerisch wertvolle Porträts doch in ein Gesicht hinein und „zeigen die Bewegungen des Geistes“, wie Fréart de Chambray es bereits 1662 notierte. So gibt McNeill ein klassisches Beispiel mit der Machart von Leonardo da Vincis „Mona Lisa“: „Ihre Pupillen sind nach rechts gerichtet und ein Mundwinkel leicht nach oben gezogen“. Der Kunstgriff des „Sfumato“, des Verwischens der Umrisse, verleiht ihrem Bildnis obendrein vibrierendes Leben. So wird sichtbar, daß sie nachdenkt, wenn auch die Gedanken im Verborgenen bleiben und ein breites Feld für Spekulationen eröffnen können: ironisch, spöttelnd, böse, kokett oder eben auch friedvoll lächelnd. Die Palette der Deu- tungen über die Absichten der vermeintlichen Gattin Francesco del Giocondos ist variantenreich. Auch einzelne Phänomene wie das Lachen, das Erröten oder Küssen nimmt der Wissenschaftspublizist in Augenschein.
Um dem Lippenkontakt nachhaltiger auf die Spur zu kommen, bemüht McNeill diverse Literaten, die jene durch Münder geschlagene Brücke zweier Liebender poetisch beschritten haben. Kreuz und quer geht es da mit den Fallbeispielen, von Byrons „Herzbeben“ über die sich ohne Unterlaß küssenden Liebenden von Secundus, dann zu August Rodins in Stein gehauenem Kuß und bald zu Nabokovs Marthe mit ihren „waldbeerengeschmackähnlichen“ Liebkosungen. Wer hier nach einer wissenschaftsgemäßen Systematik oder wenigstens einer gewissen Chronologie fahndet, wird enttäuscht. Überdies geht McNeill mit den nötigen mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Argumenten äußerst sparsam um.
So etwa bei der Frage nach der Schönheit. Was bedingt ein schönes Gesicht? Mit einer Reihe von interessanten Studien auch zum Geschlechterverhältnis greift der Autor zwar Antworten auf, entkräftet dann aber alsbald weithin durch seine eigenen Überlegungen fremde Thesen: Nicht etwa die großen Augen und die vollen Lippen machten die Schönheit aus, sondern - wen überrascht es? - „Wesen, Scharfsinn, Liebesfähigkeit und Froh- sinn“ eines Menschen.
Mit solchen geistigen Purzelbäumen zeigt der Autor sein wahres Gesicht und gerät nicht nur einmal ins Plakative, um sich hernach in Binsenweisheiten zu verlieren. Da nützt auch der bemühte Rückgriff auf die Antike herzlich wenig. Die griechische Dichterin Sappho habe das alles schon früher gewußt, gibt der um Seriösität im bildungsbürgerlichen Sinne bemühte Autor zu bedenken: „Was schön ist, ist gut, und wer gut ist, wird bald in Schönheit erblühen.“ Neben all der Vielfalt an Informativem bleiben McNeills Betrachtungen aber für mitteleuropäische Verhältnisse gewiß hinter dem selbstgewählten Anspruch auf eine schon vom Titel her umfassend verheißungsvoll angelegte Kulturgeschichte zurück. Die Originalität des Themas aber macht das Buch dennoch lesenswert.
Daniel McNeill: Das Gesicht. Eine Kulturgeschichte. Kremayr & Scheriau, 2001, 511 Seiten, Preis 48 DM, ISBN 3-218-00689-9
Lächeln mit Kunstgriff: Das in vielerlei Weise deutbare Gesicht der Mona Lisa, Leonardo da Vincis wohl berühmtestes Bildnis, beruht auf dem künstlerisch gekonnten Verwischen der Umrisse, dem sogenannten „Sfumato“. Das Gemälde, das heute im Pariser Louvre ausgestellt ist, zeigt vemutlich die Gattin von Francesco del Giocondo und ist fast seit seinem Entstehen Gegenstand einer inzwischen kaum noch überschaubaren Anzahl kunstgeschichtlicher Abhandlungen geworden.
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