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Der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich stellte vor kurzem im "Spiegel" (18/99) fest, daß "Brief, Telegraf, Telefon, Telefax und neuerdings E-Mail die persönliche oder individuelle Kommunikation immer schneller und über weitere Entfernungen vorantreiben". Die daraus in Verbindung mit Fernsehen, Rundfunk und Interne t resultierende Informationsüberlastung stellt inzwischen nicht mehr die Ausnahme der Weltwahrnehmung dar, sondern den Normalfall. Diese Informationsüberlastung ist das Signum einer Phase der Menschheitsentwicklung, die die amerikanischen Zukunftsforscher Alvin und Heidi Toffler als "dritte Welle" bezeichneten. Die "erste Welle" war die agrikulturelle Phase der Menschheitsentwicklung, auf die als "zweite Welle" die Phase des Industriezeitalters folgte. Jetzt sei das "Informationszeitalter" angebrochen, das die Tofflers als "dritte Welle" bezeichnen.
Jede dieser "Wellen" ist durch eine bestimmte Art und Weise des Denkens gekennzeichnet, mit dem Phänomene wahrgenommen und mit Bedeutung versehen werden. Die elektronischen Phänomene, die wir heute wahrnehmen, sind freilich trügerisch. Sehen wir eigentlich wirklich das, was wir sehen?
Bestimmten früher Textzeilen und Bücher den gesellschaftlichen Datenfluß, so haben heute Computerbildschirme diese Funktion übernommen. Die immateriellen Pixelkonfigurationen der errechneten Bilder auf den Bildschirmen kennen außer bestimmten technischen Standards im Prinzip keine Einschränkungen der Gestaltung und Bildmanipulationen mehr. Die simulierten "virtuellen Realitäten" eröffnen weiter die Möglichkeit, bestimmte Wirklichkeiten durch andere zu ersetzen. Mimesis, verstanden als Nachahmung, spielt in der elektronischen Simulation eine eher geringe Rolle. Realität sei, so stellte der Essener Medienphilosoph Norbert Bolz in diesem Zusammenhang fest, "nicht mehr hinter den Bildern, sondern allein in ihnen". Die so von den Medien erzeugte Wirklichkeit, so Bolz weiter, werde zum Apriori unserer Weltwahrnehmung.
Diese Weltwahrnehmung ist zunehmend durch das Schwinden von Ferne gekennzeichnet. Das Schwinden von Ferne geht aber immer Hand in Hand mit der Beschleunigung unserer Lebensverhältnisse. Der Philosoph Paul Virilio, der diesem Thema ein Großteil seiner gedanklichen Arbeit widmet, schreibt, daß in "allen Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder freiwillig und gezwungen mitmachen", eine "Überwindung der Entfernungen" liege. "Diese eigentümliche Überwindung der Entfernungen" sei ihrer "Seinsstruktur nach eine Tollheit auf Nähe".
Die "dritte Welle" folgt also nicht nur einer bestimmten geisteswissenschaftlichen Markierung, sondern resultiert aus einer radikalen Umformung des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Hervorragendes Kennzeichen dieser Umformung ist die zerstreute Rezeption der Massen, die sich durch eine immer größere Zahl von Sendern zappen. Deren Zerstreutheit ist das neue Paradigma der Weltwahrnehmung, die nun ganz vom Tastsinn dominiert wird. Tastend rezipiert das Auge im hautengen Kontakt die Bildfläche und rückt so der Welt auf den Leib.
Die Bilder, denen das Auge folgt, dringen per Zeitraffer oder Zeitlupe, mit Stopptricks und Montagen in die Wirklichkeit ein und erschließen eine andere Natur jenseits der dem Menschen möglichen Sinneswahrnehmungen.
Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat zwischen "heißen" und "kalten Medien" unterschieden. "Heiße Medien" erweiterten einen einzelnen Sinn mit hoher Präzision. Derartige Medien, zu denen er z. B. das Photo, das Radio oder den Film zählt, erforderten eine nur geringe Partizipation und Vervollständigung. "Kalte Medien" hingegen wie etwa das Telefon, erforderten hingegen eine starke Teilnahme, da sie nur wenige Sinnesdaten lieferten.
Es ist eindeutig, daß die von McLuhan so genannten "heißen Medien" mehr und mehr unser Leben bestimmen. Mit deren Expansion schreitet aber auch die elektronische Narkose des Menschen in der mythischen Welt der neuen Medien voran.
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