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Ein Streit zwischen zwei Abgeordnetengruppen hat das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, gespalten und damit den politischen Betrieb größtenteils lahmgelegt. Ausgelöst wurde der seit knapp zwei Wochen anhaltende Konflikt durch die Weigerung von Parlamentssprecher Tkatschenko, über einen Antrag zu seiner Abwahl abstimmen zu lassen. Aus Protest verließ die Mehrheit der Abgeordneten, die sich zu einem Mitte-Rechts-Block zusammengeschlossen haben, das Parlamentsgebäude und votierte tags darauf im "Haus der Ukraine", dem früheren Lenin-Museum im Zentrum Kiews, für die Absetzung Tkatschenkos und seines kommunistischen Stellvertreters.
Tkatschenko, Mitglied der linksgerichteten Bauernpartei, hält die separate Sitzung der etwa 260 Abgeordneten und sämtliche ihrer Beschlüsse für verfassungswidrig . Das Justizministerium hingegen erklärte diese prinzipiell für gültig, da sie mit mehr als 225 Stimmen von insgesamt 450 und somit mit der verfassungsgemäß erforderlichen Mehrheit angenommen worden sind. Das Wort wird der Verfassungsgerichtshof haben, der derzeit die Rechtslage prüft. Ein Hilferuf der linken Minderheit aus Kommunisten und Sozialisten, die Tkatschenko noch zur Seite stehen, an den Europarat und die Gesinnungsgenossen in Moskau, sie politisch zu unterstützen, erwies sich als wirkungslos. Der Europarat lehnte eine Intervention ab. Der Appell an Duma-Sprecher Selesnjow stieß unter ukrainischen Politikern auf weites Unbehagen.
Um die Amtsräume von Tkatschenko vor einer befürchteten Übernahme durch die parlamentarische Mehrheit zu schützen, stellte die linke Minderheit, die etwa 170 Parlamentarier zählt, vorsorglich eine Wache auf. Unterdessen sollen Polizeieinheiten das Parlamentsgebäude, in dem sich Abgeordnete der linken Minderheit aufhielten, blockiert und Journalisten den Zutritt verwehrt haben. Unklar ist bislang, wer die Blockade anordnete.
Wahrscheinlich ist jedoch, daß diese Maßnahme im engen Zusammenhang mit den jüngsten Aktivitäten der parlamentarischen Mehrheit steht. Diese hatte sich jüngst erneut im "Haus der Ukraine" versammelt und Iwan Pljuschtsch, Mitglied der seit je loyal zu Präsident Kutschma stehenden Volksdemokratischen Partei, zum neuen Parlamentssprecher mit der erforderlichen Anzahl von mehr als 225 Stimmen gewählt. Kutschma, der die Parlamentsmehrheit unterstützt, jedoch für fragil hält, bezeichnete die Wahl als ein großartiges Ereignis. Er äußerte die Hoffnung, daß der Mitte-Rechts-Block nun unter seiner neuen Führung effektiv arbeiten und den Staatshaushalt für das laufende Jahr alsbald annehmen werde. Dessen Verabschiedung ist für die Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds über eine Wiederaufnahme des seit September vergangenen Jahres eingefrorenen Kredits entscheidend. Kutschma ließ wissen, daß das Referendum, mit dessen Hilfe er seine Machtbefugnisse gegenüber dem Parlament erweitern will, in jedem Fall im April stattfinden wird.
Unter diesen Gegebenheiten muß die Werchowna Rada nach Ansicht ihres neuen Sprechers zwischen zwei Szenarien entscheiden. Entweder arbeite sie konstruktiv mit der Regierung zusammen, sagte Pljuschtsch auf einer Pressekonferenz nach seiner Wahl, oder das Parlament werde infolge des Referendums aufgelöst. Allerdings darf eine Kooperation mit dem Kabinett nach seinen Worten nicht die bedingungslose Annahme eingereichter Gesetzentwürfe bedeuten. Die linke Minderheit, die währenddessen im Parlamentsgebäude unter dem Vorsitz Tkatschenkos tagte, verurteilte das Verhalten der Mehrheit als ein Einlenken gegenüber Kutschma. Dahinter stehe der Versuch, in der Ukraine ein autoritäres Regime mit einem Diktator an der Spitze einzurichten, sagte Tkatschenko. Der Sozialistenführer Moros schloß außerdem die Möglichkeit nicht aus, daß Kutschma in Kiew einen Ausnahmezustand ausrufen werde. Jedoch muß seiner Ansicht nach die Existenz einer Mehrheit anerkannt werden, zumal die linke Minderheit über kein Quotum verfügt.
Inzwischen mehren sich in beiden Parlamentsflügeln die Stimmen, die eine baldige Auflösung der Werchowna Rada und vorzeitige Wahlen befürchten. Gemäß der Verfassung hat der Präsident das Recht dazu, wenn die Abgeordneten binnen 30 Tagen einer Sitzungsperiode nicht zu einer Plenartagung zusammengekommen sind. Die Verhandlungen zwischen den verfeindeten Gruppen endeten bislang jedoch in der Sackgasse. Die Linke beharrt auf einer gemeinsamen Parlamentsversammlung unter dem Vorsitz von Tkatschenko, die Mehrheit dagegen auf der Rechtmäßigkeit ihrer Beschlüsse.
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