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Die „Bündische Jugend“, wie die vor 100 Jahren mit dem Wandervogel in Berlin-Steglitz entstandene Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg genannt wird, gilt vielen Autoren als Helfershelfer bei der „Inbesitznahme der Jugend“. Dieses Bild von einer „präfaschistischen“ Bewegung wird den historischen Umständen genauso wenig gerecht wie die Version von der „Jugendopposition“ gegen das Dritte Reich.
Schon 1933, nach seiner Ernennung zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“ durch Hitler, hatte Baldur von Schirach den „Großdeutschen Bund“ „aufgelöst“. Der „Großdeutsche Bund“ war ein Versuch verschiedener Bünde der Jugendbewegung, als Großverband unter der Führung des mit Hitler persönlich bekannten preußischen Admirals von Trotha im Dritten Reich zu überleben. Die Auflösung war ein „Bluff“: „Staatliche Machtbefugnis dazu besaß ich nicht“, bekannte von Schirach in seinen Memoiren. Trotzdem erschienen SA und SS auf dem ersten Bundestreffen des „Großdeutschen Bundes“ in Munsterlager, um es mit Hilfe der Polizei aufzulösen. Nach vergeblichem Protest v. Trothas bei Hitler und Innenminister Frick löste er den Bund auf und empfahl den Mitgliedern den Eintritt in HJ und DJ. Aus der Sicht v. Schirachs war „Die Organisation der HJ“ nun die „einzige und alleinige Vertretung der deutschen Jugend“. Dazu war aber die Hitlerjugend zumindest 1933-36 nicht in der Lage. In seiner Rückschau „Ich glaubte an Hitler“ gibt er zu: „Aus der Bündischen Jugend liefen immer noch wertvolle und für uns wichtige Führungskräfte zur HJ über. Und von ihr haben wir dann auch die für das Jungvolk so charakteristischen Spielmanns- und Fanfarenzüge übernommen.“ Aus diesem Bekenntnis spricht nicht nur der Führermangel der HJ, die von einer zahlenmäßig unbedeutenden Parteiorganisation zur „alleinigen Vertretung der Jugend“ avanciert war, sondern auch die Tatsache, daß etliche bündische Gruppen mit ihren Führern in die HJ und vor allem in das Deutsche Jungvolk eintraten. Sie gaben der HJ nicht nur strukturelle Aufbauhilfe, sondern befruchteten sie auch kulturell durch ihre speziellen Lebensformen und Lieder. Diese Domäne der bündischen Lieder wurde auch in der Illegalität mit anderen Texten gepflegt. „Wir traben in die Weite, das Fähnlein steht im Spind, vieltausend uns zur Seite, die auch verboten sind.“ So sangen die „Fürsten in Lumpen und Loden“, die nicht mitmarschierten. Noch aber existierten zwei herausragende Bünde der Jugendbewegung, deren Auflösung dramatischer verlief.
Der „Nerother Wandervogel“, 1921 von den preußischen Offizieren Robert und Karl Oelbermann gegründet, widersetzte sich den Maßnahmen von Schirachs. Der Bund der „Nerother“ war nach mittelalterlichem Vorbild in autonome Orden gegliedert. Die Oelbermänner wollten eine „Rheinische Jugendburg“ errichten und damit den Traum von einem „Jugendreich“ in der Preußischen Rheinprovinz Wirklichkeit werden lassen. Die zu diesem Zweck erworbene Burgruine „Waldeck“ im Hunsrück bildete die Kulisse für die Auseinandersetzungen zwischen HJ und Nerothern. Einer Erstürmung der Burg Waldeck und des Nerother Bundestreffens 1933 durch SA und HJ kam der Koblenzer Regierungspräsident Turner zuvor. Turner war im Range eines SS-Oberführers und den Nerothern wohlgesonnen. Er schickte den Rollkommandos Gendarmerie entgegen, mit dem Befehl, diese aufzuhalten und notfalls zu schießen. Trotzdem erfolgte ein weiterer Versuch - diesmal von der SS -, die Burg Waldeck „im Sturm“ zu nehmen. Die Entschlossenheit der Burgmannschaft bewirkte, daß die SS wieder abrücken mußte. Der gerade von einer Weltfahrt zurückgekehrte Bundesführer Robert Oelbermann löste den Bund 1934 dennoch auf: „Er sagte etwas von braunen Affenhorden, die sich über die Freiheit und den Geist hergemacht hätten und denen wir die Stirn bieten sollten.“ So schilderte Werner Helwig, der „Bundespoet“ der Nerother, die Auflösungsrede Oelbermanns. Die Aufforderung „an jeden einzelnen von uns, Deutschland wieder freizukämpfen“, nahmen einige Nerother ernst. Der Düsseldorfer „Orden der Piraten“ unter „Julla“ Schäfer und der „Orden der Pachanten“ unter Paul Leser stemmten sich gegen die Auflösung. Ihr „Ordenslied“ sprach eine eindeutige Sprache: „Zum Henker mit der schlappen Bande, die feig zurückweicht vor der Not. Jetzt geht der Kampf um Ehr und Schande, wir sind das letzte Aufgebot.“ Im Zuge der Aktion „Vernichtung der Bündischen Reste“ 1936 wurden Robert Oelbermann und „Julla“ Schäfer verhaftet. Robert Oelbermann starb 1941 im KZ Dachau. Andere, wie Karl Oelbermann und der später als Ethnologe bekannt gewordene Paul Leser, waren rechtzeitig über die Grenzen geflohen.
Eberhard Köbel und seine „deutsche Jungenschaft vom 1.11.1929“, die „d.j.-1.11“, stellten innerhalb der Bündischen Jugend ebenfalls eine Besonderheit dar. Köbel, mit Spitznahmen „tusk“, brachte von seiner Lapplandfahrt eine den Rentierzüchtern abgeschaute Zeltform, die „Kohte“, mit, die, wie die von ihm den „Schwarzmeermatrosen“ entlehnte und modifizierte Jacke, die „Juja“, in der Jugendbewegung weite Verbreitung fand. Er führte russische Gesänge und Instrumente ein, und die Jungen seines Bundes besuchten mit Begeisterung die Konzerte des „Don-Kosaken-Chors“ unter Serge Jaroff. „Hier wird auf dem Umweg über die Kultur durch Lieder, Literatur und Brauchtum die Jugend zum Kommunismus hingeführt“, lautete das Urteil der Nationalsozialisten, vertreten durch G. Mögling in „Wille und Macht“ 1935. Einen weiteren „Beweis“ für den Vorwurf kommunistischer Gesinnung und der damit verbundenen Staatsgefährdung lieferte Köbel selbst. „tusk“ war 1932 in die KPD eingetreten. Aber schon 1933 revidierte er seine Entscheidung und stellte den Antrag zur Aufnahme in die SS und die NSDAP. An seinen Bund schrieb er in typischer Kleinschreibung: „wir wollen nicht die illusion pflegen, hitler habe nur äußerlich gesiegt. nein! wir wollen uns mit all den kultivierten kräften, die in d.j.1.11 gewachsen sind, dem neuen deutschland zu verfügung stellen.“ Doch dieser Wandlung traute man von seiten der NSDAP nicht. „tusk“ ging ins Ausland. In dem 1936 von zuständiger Stelle (dem Reichsinnenministerium) erlassenen Verbot der Bündischen Jugend wird dann auch die „d.j.1.11“ als erster Bund vor den Nerothern auf der Verbotsliste genannt. Aber noch 1938 wird einem Jugendlichen aus Berlin vom Oberreichsanwalt vorgeworfen, daß er „regen Anteil an den Veranstaltungen, Lagern und Fahrten der d.j.1.11“ genommen habe. Ein Hinweis auf das Fortbestehen des Bundes in der Illegalität. Unter dem Druck der Verfolgung durch Partei, HJ, SA und Gestapo schmolzen die Unterschiede der Bünde sowie geographische und freundschaftliche Vorbehalte dahin. „anfang 1935 ging eine d.j.1.11-horte mit ausgesuchter mannschaft restlos in die illegalität, unsichere kantonisten waren abgestoßen worden! aktive horte im piratenorden“ - so schrieb ein Angehöriger der Kieler „d.j.1.11“ in sein Tagebuch. Mit „Piratenorden“ ist der schon erwähnte „Orden der Piraten“ der Nerother aus Düsseldorf unter „Julla“ Schäfer gemeint. Paulus Buscher allerdings konstatiert in seinem Buch „Das Stigma“ für 1937: „ Noch in dieser Zeit gab es auf beiden Seiten Vorbehalte: die ,preußische‘ Jungenschaft mochte die ,rheinischen‘ Nerother nicht; und umgekehrt.“ Buscher war selbst Mitglied der „d.j.1.11“ in Wuppertal und berichtet über seine Erlebnisse als sogenannter „Edelweißpirat“. Dieser Begriff wurde höchstwahrscheinlich von der Gestapo eingeführt und abwertend verwendet. Doch auch die freiwillige Übernahme der Bezeichnung vor allem von „wilden“ Jugendgruppen ist belegt. Das Edelweiß war bei Bündischen Gruppen als Abzeichen sehr beliebt. Ob durch den Kontakt mit dem in der Preußischen Rheinprovinz zur Zeit der „Ruhrkrise“ kämpfenden „Freikorps Oberland“, dessen Abzeichen das Edelweiß war, oder durch den Einfluß der in der Zeit sehr beliebten Filme alpinen Inhalts von Luis Trenker und Leni Riefenstahl, ist nicht klar zu sagen. Das Piratentum aber entsprach dem Selbstverständnis der Bündischen als „outlaws“ der Gesellschaft, die, getreu der „Meißnerformel“ von 1913, „in eigener Verantwortung nach eigener Bestimmung“ „alle Schätze dieser Erde“ raubten. So findet sich eine Vielzahl von Liedern, Symbolen und Gruppenbezeichnungen, die sich auf das Piratentum beziehen. Die „Kittelbachpiraten“ waren im Raum Düsseldorf unter ihrem Führer Alois Brockerhoff „Eisbär“ aktiv. Dieser erst als „Wanderbund Kittelbachpiraten“ firmierende Bund bewegte sich politisch in der Nähe der „Nationalbolschewisten“ Ernst Niekischs und unterstützte vor 1933 die örtliche SA. Nach der Machtübernahme aber wurde auch er verfolgt und agierte nun im Untergrund. Ein zusammenfassender Bericht der Gestapo zu „Bündischen Umtrieben“ im Raum Düsseldorf stellte 1936 fest: „Man singt jetzt unter anderem ,schlagt die bündische Jugend wieder frei, wir bleiben dem Eisbär treu‘.“ Der Begriff „Edelweißpiraten“ ist um 1978 verstärkt in das öffentliche Bewußtsein gedrungen.
Getreu einem SED-Parteitagsbeschluß, die „Geschichte von unten“ in Westdeutschland als Moment „proletarischer Geschichtsformung“ in den Vordergrund zu rücken, begannen der „Verein der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) und die DKP in Köln mit der Konstruktion einer „Protestbewegung jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich“. So lautet der Untertitel des 1980 erschienenen Buches „Die Edelweißpiraten“ von Detlef Peukert. Matthias von Hellfeld sekundierte mit dem 1981 veröffentlichten Titel: „Edelweißpiraten in Köln. Jugendrebellion gegen das 3. Reich“. Am 10. November 1944 waren 13 als „Edelweißpiraten“ bezeichnete Jugendliche wegen schwerstkrimineller Handlungen in Köln öffentlich hingerichtet worden. Dieser Umstand lieferte die Kulisse für die Offensive von links. Die Möglichkeit, Jugendbewegung und politischen Protest mit der Hinrichtung von Kriminellen zu verbinden, ergab sich aus dem Umstand, daß die von der Gestapo und später auch von Polizei und Gerichten verwendete Bezeichnung „Edelweißpiraten“, anfangs nur auf Bündische Gruppen und Personen angewand, ab 1940 inflationär für alle sich der HJ-Dienstpflicht entziehenden Jugendlichen gebraucht wurde. „Die früheren behördlichen Einstufungen, wie Bündische Jugend, Nerother, d.j.1/11 u. ähnl. treffen nicht zu. Im folgenden soll jedoch die Bezeichnung ,Edelweißpiraten‘ gebraucht werden“, so ein Kölner Amtsgerichtsrat 1943. Zu den originären Bündischen Gruppen, in denen sich die Reste der Jugendbewegung sammelten, gesellten sich solche, die durch Kontakt mit einzelnen Personen oder ganzen Gruppen bündische Teilelemente, wie die „Kluft“, Lieder und Symbolik, adaptierten. Gerade die vom alliierten Bombenterror geschädigten Großstädte der Rheinprovinz aber waren von kriminellen Jugendbanden betroffen. „Die ,Edelweißpiraten‘ sind eine Kriegserscheinung, sie tragen alle das Merkmal großstädtischer Jugend“, urteilte ein Gestapo-Bericht 1943. Der Versuch, die Vorfälle um die kriminelle Bande aus Köln als bündische „Jugendrebellion“ darzustellen, führte zur Verleihung der Medaille „Gerechter der Völker“ durch die israelische Gedenkeinrichtung Yad Vashem an einen Angehörigen dieser Gruppe, zu einer Straßenbenennung in Köln und der Errichtung einer Gedenktafel. Aufgrund berechtigter Zweifel an der Darstellung und entsprechender Anfragen aus Israel beauftragte der Düsseldorfer Landtag Bernd-A. Rusinek mit der Untersuchung der Umstände. Das Ergebnis wurde unter dem Titel „Gesellschaft in der Katastrophe“ 1985 veröffentlicht. Es zeigte sich nicht nur, daß es sich bei den Hingerichteten um eine völlig traditionslose Jugendbande gehandelt hatte, sondern auch, daß sie nach dem damals geltenden Recht zu Recht zum Tode verurteilt worden waren. Ein Skandal, aber er hatte die „wahren“, in bündischer Tradition stehenden „Edelweißpiraten“ in die Nähe krimineller Banden gerückt.
Daß dem nicht so war und daß bis Kriegsende zahlenmäßig starke Gruppen bündischer „Edelweißpiraten“ existierten, zeigt eine Urteilsbegründung aus dem Jahr 1943: „In letzter Zeit, besonders seit dem Kriege, haben sich Banden und Cliquen Jugendlicher gebildet, die nach außen hin durch eine besondere Kluft: Lederhosen, bunter Schal, auf die Schuhe herabgerollte Strümpfe, Edelweißabzeichen, nach innen durch eine HJ-feindliche Einstellung gekennzeichnet sind. Der Angeklagte hat in bündischer Kleidung an Fahrten teilgenommen und die Treffabende der bündischen Jugend regelmäßig besucht.“ Auch die Reichsjugendführung war auf diese Gruppen aufmerksam geworden. So gab Baldur von Schirach 1941 einen „Lagebericht zur Kriminalität und Gefährdung der Jugend“ heraus. Unter der Bezeichnung „kriminell“ wurde hier die nach 1936 verbotene „Bündische Betätigung“ genauso verstanden wie herkömmliche Straftaten. Diese bewußte Stigmatisierung als „Kriminelle“ entsprang dem alten Hass von Schirachs auf die nicht nationalsozialistische Konkurrenz. Diese aber bestand trotz seiner „Auflösungen“ und „Verbote“ weiter, wenn auch „Ehrlos bis unter den Boden“.
Bewegte Geschichte: Wandervogel-Gedenkstein im Stadtpark von Steglitz, dem Ursprung der Jugendbewegung, Blick auf die Jugendburg Ludwigstein im Werratal.
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