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Seit Jahrzehnten kann man nicht nur in Büchern (die freilich nicht in den großen im Strom der politischen Korrektheit schwimmenden Verlagen erscheinen) sowie in Beiträgen in Zeitschriften und Zeitungen, die nicht zuletzt deswegen als politisch rechts eingestuft werden, alles über den strategischen Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieg es lesen. Nachdem die Verbote, die die Sieger 1945 über die Untersuchungen des Massenmordes an Deutschen aus der Luft verhängt hatten, verschwunden waren, nahmen von Jahr zu Jahr die Kenntnisse eines der größten Kriegsverbrechen zu - allerdings ohne daß die offizielle Historikerzunft davon Notiz genommen hätte und ohne daß die die Diskussion bestimmenden Zeitungen und Zeitschriften samt den Fernsehsendern das Thema aufgriffen hätten, geschweige daß die Fakten in die deutschen Schulbücher und in die Publikationen der politischen Bildung Aufnahme gefunden hätten. Immer mehr Wissenschaftler und Fachjournalisten ließen sich nicht mehr den Mund verbieten, sondern breiteten ihre Kenntnisse darüber aus, wie es zu dem auf die Zivilbevölkerung gezielten Luftkrieg gekommen war, wie er ablief und wer die Verantwortlichen waren. Und sie ordneten auch ein, wie diese Art des Luftkrieges völkerrechtlich zu bewerten sei: als ein eindeutiges Kriegsverbrechen.
Jetzt hat der Historiker Jörg Fried-rich, den man in der Vergangenheit dem linken Lager zurechnete, ein dickleibiges Buch mit dem Titel "Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945" geschrieben, in dem er vieles, aber nicht alles zusammenträgt, was in der Vergangenheit von jenen ans Tageslicht gefördert wurde, die beschuldigt wurden, sie wollten damit von den deutschen Verbrechen ablenken, die deutschen Greueltaten relativieren, sie wollten gar aufrechnen! Nun aber wird der Öffentlichkeit all das, was andere erforscht haben, von Jörg Friedrich in einem Buch präsentiert, das in dem zum Axel Springer Verlag gehörenden Propyläen Verlag erscheint, und da fallen Rezensenten und Politiker aus allen Wolken über das, was ihnen über die schrecklichen Ereignisse präsentiert wird.
Es kann einem nur recht sein, wenn durch das Buch nun auch die politische Klasse von diesem an Deutschen begangenen Verbrechen Kenntnis erhält, doch mit den Elogen windet man dem Histo-riker Friedrich verdorrten Lorbeer ums Haupt, zumal sein Buch alles andere ist als die umfassende Darstellung des Luftkrieges gegen Deutschland.
Bereits vor fünf Jahren hat der Literaturwissenschaftler und Historiker W. G. Sebald in Vorlesungen an der Universität Zürich darauf hingewiesen, daß das Schweigen über den Massenmord an der deutschen Zivilbevölkerung durch die britische und US-amerikanische Luftwaffe einem Schweige-Tabu gleiche. Er hatte den Deutschen attestiert, daß sie "heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk" seien.
Seitdem wird immer wieder gefragt, wo die gültige literarische Darstellung der Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung bleibe. Manche Rezensenten wollen das Buch "Der Brand" von Jörg Friedrich als eine solche Darstellung werten. Das ist es keineswegs.
"Der Brand" ist kein wissenschaftliches Buch, in dem unter Nennung von Quellen dargestellt wird, wer den strategischen Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung als einen Weg, den Krieg zu gewinnen, "entdeckt" hat, wie die dazugehörende Doktrin entwickelt wurde und wann die entsprechende spezielle Luftrüstung von wem eingeleitet wurde, ohne die eine solche Art des Krieges nicht hätte geführt werden können. Es fehlt jeder Hinweis darauf, wie jene Politiker und Militärs dazu kamen, alle in der Haager Landkriegsordnung aufgestellten Regeln über den Schutz der Zivilbevölkerung zu mißachten, einem völkerrechtlichen Vertragswerk, das auch von Großbritannien und den USA unterzeichnet worden war und das nun plötzlich nicht mehr gelten sollte, wenn es um den Krieg gegen die Deutschen ging.
In der merkwürdigen Gliederung in die Kapitel "Waffe", "Strategie", "Land", "Schutz", "Wir", "Ich", "Stein" faßt Jörg Friedrich feuilletonartig zusammen, was er aus den Schriften der wissenschaftlichen Pioniere, die sich mit dem Thema bislang befaßt haben, zusammengestoppelt hat. Dabei kommt durchaus manch interessante Wertung zustande, doch ist die übergroße Masse des Mitgeteilten längst bekannt. Er wagt auch nicht, den konsequenten Schritt zu tun, indem er erhellt, wer denn nun verantwortlich für diese Entartung des Krieges, dieses monströse Kriegsverbrechen war. Ob der Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung ein Kriegsverbrechen war, das müsse jeder für sich entscheiden, so Friedrich in einem Interview, als gäbe es die Haager Landkriegs- ordnung ebensowenig wie die Definition des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg.
Statt dessen verwischt er die Verantwortlichkeit, indem er - und das muß wider besseres Wissen passiert sein - die deutschen Luftangriffe auf die in der Kampflinie liegenden Städte Warschau und Rotterdam gleichsetzt mit der Terrorbombardierung von deutschen Arbeiterwohnvierteln. Längst ist von kompetenten Historikern bis ins kleinste nachgewiesen, daß natürlich der Luftkrieg gegen das mehrmals vorher zur Kapitulation aufgeforderte Warschau, das erbittert von polnischen Truppen verteidigt wurde, ebenso wenig völkerrechtswidrig war wie der Luftangriff auf Rotterdam, das sich ebenfalls der deutschen Aufforderung zur Kapitulation verweigert hatte.
An einer Stelle behauptet er, die deutsche Luftwaffe habe 1940/41 mit ihren Angriffen auf die Hafenanlagen, auf Werften und Elektrizitätswerke Londons den uneingeschränkten Luftkrieg begonnen, was definitiv nicht der Fall war, an anderer wiederum gibt er zu, daß Deutschland technisch nicht in der Lage war, durch Bombenteppiche Wohnviertel einzuäschern. Er liebt Horror- und Greuelschilderungen, damit vergleichbar Curzio Malaparte, der es bald nach dem Krieg mit seinem Buch "Die Haut" darauf angelegt hatte, den Luftkrieg zu einem perversen Gruselspektakel zu machen. Woher er die Belege für seine Behauptung hat, ab August 1943 habe in Berlin allgemein "helles Entsetzen" wegen des Luftkrieges geherrscht, ist ebenso unklar wie die Quelle zu seinem Märchen, daß ab Ende 1944 in Berlin "Zehntausende Schüler Banden gebildet" hätten. Hier liest man, Fremdarbeitern (für ihn natürlich "Zwangsarbeiter") sei der Zugang zu Luftschutzräumen verboten gewesen, einige Seiten weiter schildert er, wie Fremdarbeiter und Deutsche gemeinsam in Luftschutzbunkern sitzen.
Stilistisch entgleist Friedrich immer wieder, so etwa wenn er schreibt: "Hitlerjungen und Bundmädchen wirbeln in der Verletzten- und Obdachlosenbetreuung". Wirbeln? Und Bundmädchen? Oder wenn er nach den deutschen Luftangriffen auf die Rüstungswerke im Stadtgebiet Coventrys über die Stimmung in Deutschland schreibt: "Eine Brise des Entzückens empfängt die Coventry-Operation." Eine Brise?
Natürlich kann Hitlers Redezitat nicht fehlen, die Luftwaffe werde Englands Städte "ausradieren", doch enthält er seinen Lesern vor, daß diese vollmundige Propagandabehauptung ausgelöst worden war durch des britischen Informationsministers Duff Cooper nicht minder vollmundige Drohung, England werde "Hamburg pulverisieren".
Es fällt auf, daß in seinem Literaturverzeichnis wichtigste deutsche Veröffentlichungen fehlen. Dazu gehören zum Beispiel das 1962 bereits in der 2. Auflage erschienene Buch "Politik hinter verschlossenen Türen" von C. P. Snow, in dem der britische Naturwissenschaftler und angesehene Literat, der während des Krieges Berater der britischen Regierung war, zum ersten Male der Öffentlichkeit mitteilte, daß die britische Luftkriegsführung gezielt Methoden entwickelt hatte, um dichtbebaute deutsche Arbeitersiedlun-
gen so anzugreifen, daß möglichst viele Zivilisten umkommen. Er kennt auch nicht das erschütternde Buch des Mediziners Siegfried Gräff, "Tod im Luftangriff". Die erste umfassende Darstellung des Luftkrieges gegen Europa, "Alliierter Bombenterror - Der Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung Europas 1940-1945", von Maximilian Czesany - zuerst 1968 als Habilitationsschrift erschienen und vor wenigen Jahren in einer Neuauflage herausgekommen - kommt in seinem Literaturverzeichnis ebenso wenig vor wie die Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes Heft 3/1962 über die deutschen Luftkriegsverluste. Und das erstaunlichste Versäumnis: Es ist ihm offenbar entgangen, daß 1988 in Freiburg das Militärgeschichtliche Forschungsamt eine internationale Tagung "Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg - Ein internationaler Vergleich" durchgeführt hat, dessen Referate 1993 im angesehenen Mittler-Verlag von Horst Boog herausgegeben wurden und die Grundlage für jede ernsthafte Beschäftigung auch mit dem Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung bilden.
Es gibt aber auch interessante Akzente, so wenn Friedrich mehrmals den Einsatz von Hitlerjungen und BDM-Mädchen beim Retten, Bergen und Löschen hervorhebt. In einem vor wenigen Monaten von Alexander Kluge in einer dctp-Fernsehsendung geführten Interview nannte Friedrich das Verhalten der damaligen Jugend "heldenhaft", ein Wort, das man in der deutschen Öffentlichkeit bislang nur in bezug auf die Siegermächte hörte.
Friedrich bietet jemandem, der sich ernsthaft mit dem Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung befassen will, nichts Neues. Immerhin aber ist es erfreulich, daß man offenbar durch dieses Buch auch in gewissen Kreisen unserer politischen Klasse sowie in Großbritannien von dem Verbrechen des Luftkrieges gegen die deutschen Zivilisten Notiz nimmt.
Jörg Friedrich: "Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945", Propyläen Verlag, München 2002, gebunden mit Schutzumschlag, 592 Seiten, 25,00 Euro
Jörg Friedrich: Der Buchautor hat in Alfred M. de Zayas und Franz W. Seidlers Neuerscheinung "Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert" die Stichwörter "Babiy Yar" und "SS-Einsatzgruppen" bearbeitet und ist vor "Der Brand" bereits mit den Büchern "Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation" und "Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Russland 1941-1945. Der Prozess gegen das Oberkommando der Wehrmacht" in Erscheinung getreten. |
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