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Die Zeitbombe tickt

 
     
 
Die Zeitbombe tickt. Zwar nur ganz leise, die Phonzahl entspricht der des Tickens eines Geigerzählers. Aber gerade das ist das Bedrohliche: Weitgehend unbeachtet von der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, hat die EU sich mit ihrer Osterweiterung nicht nur einen Berg von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen eingehandelt, sondern auch ein erhebliches Gefahrenpotential in Form höchst unsicherer Kernkraftwerke
.

Ganz oben auf der Liste steht Litauen. In Ignalina im Nordosten der Baltenrepublik stehen die beiden mächtigsten Reaktorblöcke, die weltweit je gebaut wurden, zwei sogenannte Druckröhren-Siedewasserreaktoren mit je 1.500 Megawatt installierter Leistung. Tschernobyl läßt grüßen: In der Ukraine war 1986 einer der vier Blöcke des baugleichen Typs durchgegangen - der bislang schwerste Unfall, seit der Mensch begann, die Kernenergie zu friedlichen Zwecken zu nutzen.

Die beiden Blöcke in Ignalina gingen 1983 und 1987 (ein Jahr nach Tschernobyl!) ans Netz. Westliche Sicherheitsexperten haben während der EU-Beitrittsverhandlungen immer wieder die sofortige Stillegung gefordert. Begründung: Schon beim Bau wurde auf wichtige Sicherheitseinrichtungen teils verzichtet, teils wurden sie falsch installiert. Im Betrieb kamen erhebliche Risiken hinzu, unter anderem durch unerfahrenes und schlecht ausgebildetes Personal. Eine Beseitigung der schlimmsten Baumängel würde mehrere hundert Millionen Dollar kosten; außerdem müßte das Kraftwerk für mindestens zwei Jahre abgeschaltet werden. Dann aber gingen in Litauen im wörtlichen Sinne die Lichter aus: Ignalina liefert 80 Prozent des landesweiten Strombedarfs.

In zähen Verhandlungen einigte sich die EU mit Litauen darauf, daß der erste Block Ende 2005 und der zweite Ende 2009 abgeschaltet werden soll. Dafür verlangt das Land aber eine Kompensation in Milliarden-Euro-Höhe - wenn Brüssel und seine Finanziers (in erster Linie also Berlin) nicht entsprechend zahlen, läßt man die Zeitbombe eben weiterticken.

Doch auch wenn das Ausstiegsszenario verwirklicht wird: Bis zum endgültigen Abschalten vergehen noch fünfeinhalb Jahre. Jederzeit kann es zum GAU (Größter anzunehmender Unfall) kommen, und dessen Folgen würden sich mit ein paar Milliarden Euro dann nicht mehr bemessen lassen.

Große Sorgen bereiten auch die Kernkraftwerke in der Slowakei. Sie entsprechen zwar nicht dem Tschernobyl-Katastrophen-Typ RBMK, sondern der Bauart WWER, die eher mit westlichen Druckwasserreaktoren vergleichbar ist und bauartbedingt ein nicht ganz so hohes Sicherheitsrisiko darstellt.

In Bohunice, nur 100 Kilometer nordöstlich von Wien, stehen vier Reaktorblöcke, von denen zwei inzwischen heruntergefahren wurden. Die beiden anderen, 1984/85 in Betrieb genommen, waren ursprünglich für 40 Jahre Betriebsdauer ausgelegt. Mit einem Kostenaufwand von 70 Millionen Dollar wurden zwar einige gravierende Sicherheitsmängel behoben, das Unfallrisiko ist aber immer noch um tausendmal höher als bei westlichen Kernkraftwerken. Die Stillegung wurde im Rahmen des EU-Beitritts für Ende 2006 bzw. Ende 2008 zugesagt.

Zwei weitere WWER-Blöcke, in Mochovne östlich der slowakischen Hauptstadt Preßburg, gingen 1998/99 ans Netz. Sie gelten unter Experten als "geringeres Übel", aber immer noch mit zu hohen Risiken behaftet. Dennoch ist damit zu rechnen, daß sie bis etwa 2030 in Betrieb bleiben.

Die Tschechen betreiben in Dukovany westlich von Brünn seit 1985/87 vier WWER-Blöcke, die Ende der 90er Jahre mit 750 Millionen Dollar Aufwand auf westliche Digital-Steuerung umgerüstet wurden. Seither haben sich die zuvor auffällig häufigen Störfälle (unter anderem kleinere Brände) deutlich reduziert. Nach wie vor liegt das Sicherheitsniveau deutlich unter dem in Deutschland üblichen. Dies gilt auch für das neue Kernkraftwerk Temelin, (100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt), dessen zwei Blöcke schon in der Anfahrphase durch immer neue Pannenserien unangenehm auffielen.

Hingegen gelten die vier Blöcke des ungarischen Atomkraftwerks Paks seit ihrer Inbetriebnahme 1982 bis 1987 als die sichersten und seriösesten im gesamten Bereich des ehemaligen Sowjet-Imperiums. Budapest hatte nach dem Zerfall des Ostblocks besonders großen Ehrgeiz bei der Nachrüstung von Sicherheitstechnologien gezeigt. Unter den neuen EU-Mitgliedern nimmt Slowenien eine Sonderstellung ein. Die kleine, ehemals jugoslawische Republik betreibt seit 1981 ein Kernkraftwerk amerikanischer Bauart (Westinghouse) - zuverlässig und ohne nennenswerte Störfälle.

Jenseits der EU-Außengrenzen hingegen wird es umso bedrohlicher. Rußland unterhält allein im europäischen Teil des Riesenreiches 21 Reaktorblöcke, davon gut die Hälfte vom Tschernobyl-Typ. Sie gelten in Fachkreise ebenso als nukleare Zeitbomben wie die sechs Blöcke der bulgarischen Atomanlage Kosloduj (Kommentar deutscher Experten: "verantwortungslose Schlamperei bei den Sicherheitsvorkehrungen"). Ähnlich sieht es bei den sechs Blöcken des ukrainischen Kraftwerks Saporoschje aus. Für sie alle gilt: Abschalten allein reicht nicht, sie stellen auch danach noch jahrzehntelang ein hohes Gefahrenpotential dar.

Im Umfeld der Osterweiterung wurden die neuen Mitglieder insbesondere von deutschen Politikern mit lautem Jubel über die "Heimkehr nach Europa" begrüßt. Kritische Worte wegen der nuklearen Zeitbomben waren nicht zu vernehmen, auch nicht von den Grünen. Deren Ideologie ist mit dem Ausstieg aus der sicheren deutschen Kernkraftnutzung offenbar Genüge getan - für den drohenden GAU aus dem Osten sind sie blind. Juliane Meier

 

Trist und gefährlich: Das Kernkraftwerk Bohunice in der Slowakei ist trotz Nachbesserungen ein Risikofaktor.
 
     
     
 
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