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Er sieht aus wie Mitte 70, ist aber über zehn Jahre jünger. Jeden Tag geht der alte Mann zum Deich, sucht nach Maulwurfshügeln und anderen Dingen, die den das Land vor dem tosenden Meer schützenden Hügel brüchig machen könnten. Nach der Arbeit sitzen seine Frau und er sich schweigend beim Essen gegenüber – sie haben sich nichts zu erzählen. Und auch auf dem Weg vom und zum Deich fällt allenfalls mal ein „Moin“ zwischen ihm und den Dorfbewohnern. „Moin“, ein Wort, das dem Mann so fremd ist wie die ganze Gegend, wie die ganzen Bewohner. Sein einziger Kamerad ist ein Kater, der ihn jeden Tag auf seinem Deich besucht, ihm bei der Arbeit zuschaut, sich streicheln läßt und ihm zuhört. Denn auf dem Deich redet der alte Mann. Er erzählt von den drei Malen in seinem Leben, wo er beinahe für sein Vaterland gestorben wäre. Vom Ersten Weltkrieg und vom Zweiten Weltkrieg. Von dem Heranrücken der Roten Armee an seine ostdeutsche Heimat, von deren Greueltaten und von der Vertreibung. Hier, auf dem Deich, umtost von den Geräuschen des Meeres, kann er von seinen Gefühlen berichten, was er empfand, als er und die anderen Dorfbewohner, versteckt in einem Keller, hofften, daß die Rote Armee vorbeizieht, ohne sie zu finden. Von dem widersprüchlichen Gefühl der Erlösung, als die Anspannung in dem dunklen Keller endlich wich, da man entdeckt worden war und man jetzt immerhin wußte, woran man war. Knapp erzählt er vom sinnlosen Töten. Von einem alten Mann, der von einem Russen erschossen wurde, weil der Soldat dachte, der Alte würde eine Waffe aus seiner Hose ziehen, dabei wollte der Alte nur draußen Urinieren. „,Acht Taschen und vier Rucksäcke‘, dachte ich, ,das ist also alles, was übriggeblieben ist. Dafür hast du nun mehr als drei Jahrzehnte geschuftet. Zehn Jahre für die Unterwäsche, zehn Jahre für die Hosen und Hemden und zehn Jahre für
das getrocknete Brot in den Ruck-säcken.‘“ Doch selbst dieses Ge-päck können sie nicht in den Westen retten. Voller Trauer muß seine jüngste Tochter die Tasche mit ihrem rosafarbenen Sonntagskleid und der Puppe am Wegesrand zurücklassen, da sie diese nicht mehr tragen kann. Alles ist Ballast, nur sich selber können sie retten, um dann schweigend und ungewollt in einem norddeutschen Dorf zu landen, wo keiner sie will, wo sie plötzlich selber Ballast sind. „Warum das alles, warum nur?“ fragte anfangs noch seine Frau, da sie jedoch beide keine Antworten wissen, entschieden sie sich für das Schweigen.
Sehr einfühlsam, ohne zu viele Worte, erzählt der 1971 geborene Bielfelder Autor Lars Oermann in seinem Erstlingswerk die Geschichte des vertriebenen ostdeutschen Alten, der nur noch von seinen Erinnerungen lebt und nicht mehr die Kraft und den Willen hat, in seinem neuen Wohnort Wurzeln zu schlagen.
Die Idee, auf diese Art und Weise über Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen aus ihrer Heimat zu berichten, ist sehr gelungen. Fritz Hegelmann
Lars Oermann: „Maikäfer flieg“, bod, Norderstedt, broschiert, 167 Seiten, 10,90 Euro |
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