|
Die Trümmerwüste im Naturparadies offenbart sich schockartig, wenn wir weitergehen und das Gelände der früheren Siedlung am Seefliegerhorst betreten. Nicht ein Gebäude, das nicht von Verfall und Zerstörung gekennzeichnet ist. Dann und wann leidlich erhaltene Häuser, die bewohnt sind; sogar zwei, drei Blocks der alten Kasernen, durch russische Einheits-Eternitdächer verfremdet.
Dort, wo sich das Gelände zum Haff hin weitet, tauchen die ersten von acht Hallen auf, die sperrangelweite Durchblicke gewähren. Es sind nur noch die Torsi der einst beeindruckende n Hangars. "Rauchen verboten", verkündet auch nach 60 Jahren die schwarze Schrift an der Stirnseite. Sogar das Gebäude der Flugleitung reckt sich am Haffufer trotzig in die Höhe. Und dann ein überwältigender Blick über die mächtige Bucht bis hin zum Lehmberghaken, die in einem künstlichen Schutzdamm ausschwingt. Das war die Start- und Landebahn der Wasserflugzeuge. Der Musterflughafen war in den Jahren 1937 bis 1939 entstanden. Zu ihm gehörte auch ein kleiner dahinterliegender Landflugplatz mit Rasenstart- und Landebahn, der später vom russischen Militär betoniert wurde.
Im wesentlichen diente die imposante Anlage nur der Schulung des fliegenden Personals. Lediglich zweimal erlangte sie militärische Bedeutung: bei der Besetzung Norwegens und im Kampf um das Baltikum. Von der Baltischen Flotte wurde der Flughafen wenig genutzt, mehr und mehr vernachlässigt, bis 1995 alle Marinesoldaten abgezogen wurden.
Wer etwa am Ende des früheren Seeflugplatzes nordwärts geht, vorbei am Lehmberg und Schwedenberg mit 44 Metern höchste Erhebung auf der Frischen Nehrung steht nach einem guten halben Kilometer vor dem Ort, der das opfervolle, heldenhafte und tragische Ende des Kampfes um Pillau, ja, um ganz Ostdeutschland markiert und mit dem Namen Generalmajor Carl Henke untrennbar verbunden ist.
Der Höhere Landungspionierführer hatte sich schon beim Rückzug der 17. Armee aus dem Kuban-Brückenkopf 1943 und ein Jahr später im Baltikum einen legendären Ruf in der amphibischen Kriegsführung erworben. Seine "Seeschlangen", Pionierfahrzeuge aller Art zu endlosen Konvois zusammengestellt, retteten im Endkampf um Ostdeutschland schließlich die Verlorenen aus dem Heiligenbeiler Kessel, täglich 600 bis 700 Verwundete, dann in Pillau, das zum größten Fluchthafen der Weltgeschichte wurde; 625 000 Menschen wurden über See herausgebracht. Als am 24. April die Sowjets Pillau eroberten, leitete General Henke das Übersetzen der Flüchtlinge, Verwundeten und Soldaten nach Neutief. Mit einem Rest von Truppen verschanzte er sich in der "Batterie Lehmberg" an der Ostsee, um den Fluchtweg solange wie möglich freizuhalten. Sie kämpften bis zur letzten Patrone gegen eine erdrückende Übermacht. Ein Befreiungsversuch über See scheiterte wegen eines verhängnisvollen Irrtums.
Am 27. April um 15.30 Uhr war der Endkampf um Pillau vorbei. Der General erschoß sich selbst, weil er nicht in Gefangenschaft gehen wollte. Die eindringenden Russen fragten sofort nach Henke. Der Divisionskommandeur ließ die Verteidiger antreten und lobte die Tapferkeit des deutschen Befehlshabers und die seiner Offiziere. Diese wurden sogar zu einem Essen nach Pillau eingeladen. Der Sowjet-General gestattete die Beerdigung Henkes. Seine Soldaten trugen ihn auf eine hohe Düne der Umgebung, bestatteten ihn und setzten ein schlichtes Holzkreuz mit Inschrift auf das Grab. Darauf hätte auch der Bibelvers stehen können, den das Kreuz in Tenkitten für den ersten Prußenmissionar, Adalbert von Prag trug, nicht viel weiter nördlich von Pillau als dieser Platz des Opfertods südlich: "Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde."
1970 schickten ehemalige ostdeutsche Pioniere von See aus eine Flaschenpost, adressiert an das "Grab von Mövenhaken" (tatsächlich südöstlich am Haff gelegen) in das unzugängliche Land. Sie galt dem Manne, der kämpfte und starb für die Rettung Tausender und Abertausender flüchtender Ostdeutschland. Die Ruhestätte des Generals ist heute nicht mehr auszumachen; aber die Reste der Batterie Lehmberg sind noch erkennbar. Ein unscheinbarer Hügel in der Vordünenlandschaft birgt die von Unkraut überwucherte Bunkeranlage. Bäume sammeln sich darüber, dem Wind und der See trotzend, wie zu einem Totenhain. Totenstille empfängt den Besucher auf der ganzen weiteren Frischen Nehrung, 25 Kilometer beklemmende Einsamkeit. Kein Mensch, kein Tier vergessene Welt. Das Zwitschern der Vögel, nicht oft zu hören, klingt schrill. Taucht gar dann und wann ein Mensch auf, Angler oder Pilzsammler, so schrickt man zusammen.
Die Poststraße alter Zeiten führt wie eh und je durch eine verschwundene Natur, deren karge Schönheit ans Herz greift. Wo einmal die Försterei Mövenhaken war, beginnt ein zehn Kilometer langer, stiller Wald. Keine Spur mehr vom Kirchhof auf einer durchstochenen Düne gleich an seinem Anfang. Verlassener noch als schon früher die Strecke am Alttiefer Haken vorbei bis zum Balgaer Tief, wo die Nehrung sich bis auf 400 Meter verengt schmaler als überall und einst ein Durchbruch war, der 1520 versandete. Vergeblich sucht man auf der anderen Seite des Haffs das 1945 untergegangene Balga, wo 1239 die Ordensritter erstmals ostdeutschen Boden betraten. Doch die Türme von Braunsberg und Frauenburg grüßen immer noch herüber. (Schluß folgt)
|
|