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Ein Buch des polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross sorgt zur Zeit für Erregung. Es beschreibt einen 1941 von Polen verübten Massenmord an 1600 Menschen der jüdischen Bevölkerung des Städtchens Jedwabne nördlich von Warschau. Der polnische Leidensmythos wird darin einer grundsätzlichen Überprüfung unterzogen. Nachdem 1989 die Wende fort vom Kommunismus vollzogen wurde, interessieren sich vermehrt vor allem junge Polen für ihre neuere Vergangenheit, die unter dem kommunistischen Regime planmäßig umgelogen wurde. Das betrifft die Vertreibung der Deutschen aus ihrer angestammten Heimat ebenso wie die Geschichte der Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs.
Erst 1963 wurde im Städtchen Jedwabne ein Gedenkstein für die Opfer des Pogroms aufgestellt, wobei die Tat, wie damals üblich, unkomplizierterweise den Deutschen zugeschrieben wurde. Die regionale Kommission zur Erforschung von NS-Verbrechen unterstützte damals diese Deutung und machte die deutschen Polizeibataillone 309 und 316 für den Mord verantwortlich.
Als Mitte 2000 das Buch von Jan Tomasz Gross "Nachbarn: Die Geschichte eines jüdischen Städtchens" in polnischer Sprache erschien, nahm zunächst bis auf die liberale Zeitung "Rzeczpospolita" kaum jemand davon Notiz. Einige sprachen gar von "Totschweigen". Erst als Ende 2000 die linke französische Tageszeitung "Libération" den Polen vorwarf, sich nicht der Vergangenheit stellen zu wollen, brach die Debatte auch in Polen selbst los.
Die politischen Eliten des Landes scheinen inzwischen öffentlich Reue zu zeigen. Obwohl der Abschlußbericht der für die Aufarbeitung der Geschehnisse von Jedwabne zuständigen Kommission noch nicht vorliegt, wird Staatspräsident Kwasniewski zum 60. Jahrestag des Pogroms am 10. Juli nach Jedwabne reisen; auch der Chef der Konservativen, Jerzy Buzek, ließ verlauten, die Mittäterschaft der polnischen Zivilbevölkerung könne "nicht bezweifelt" werden.
Allein die katholische Kirche Polens verhält sich abwartend. Der Primas, Kardinal Józef Glemp, will an den Gedenkfeierlichkeiten nicht teilnehmen. Andere kirchliche Würdenträger zeigen sich noch kompromißloser. So sprach der Bischof von Lomscha, Stanislaw Stefanek, in dessen Diözese Jedwabne liegt, in einer Predigt von einer "Provokation", die eine "Spirale des Hasses" in Gang setzen solle und bei der es "um viel Geld" gehe.
Jedwabne ist in der Tat nicht der einzige Fall, in dem die bisherige polnische Geschichtsschreibung auf den öffentlichen Prüfstand gehörte. Noch immer harren beispielsweise die Themenbereiche des Bromberger Blutsonntags 1939 oder der Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat einer grundsätzlichen Aufarbeitung. Denn auch für die Geschichtsschreibung gilt: Ohne Ehrlichkeit im Umgang miteinander gibt es keine dauerhafte Verständigung.
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