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Lausige Zeiten
Er hieß Jan, und das Jahr hatte bei ihm eine exakt festgelegte Einteilung. Freilic nicht in Tage, Wochen und Monate, wie es sonst üblich war. Nein, Jan hatte ander Gewohnheiten. Vom Frühling bis zum späten Herbst war die Landstraße seine Heimat, un im Winter, wenn es kalt geworden war, beherbergte ihn das Gefängnis einer der masurische Städte zwischen Lötzen und Ortelsburg.
Dies so prächtig geregelte Leben erfuhr erst eine Unterbrechung, als Jan an eine schwülen Sommertag vor einem herannahenden Gewitter in dem Kirchhof Jablonken Zufluch suchte. Als sich Blitz und Donner ausgetobt hatten, ergriff er natürlich die Gelegenheit seiner schmalen Kasse ein wenig aufzuhelfen. Im Dorfkrug nämlich gab es ein gutes Bie und einen verteufelt scharfen Korn, genau das richtige für eine im Staub der Landstraß ausgedörrte Kehle. Jan hatte bereit fünf Teller Suppe gegessen und neben etliche Speckstücken und Brotscheiben auch ein paar Dittchen im Sack, als das Unheil nahte.
Es kam in Gestalt des Gendarmeriewachtmeisters Willigkeit, dessem geschulten Auge de Landstreicher sofort auffiel. Willigkeit war ziemlich neu in Jablonken, sonst hätte e Jan kennen müssen wie die meisten anderen Dorfbewohner. So aber zwirbelte der Gendar seinen kühnen Tatarenschnurrbart und schritt zur Verhaftung des "verdächtige Individuums", wie er Jan in geschraubtem Amtsdeutsch bei sich nannte.
Dieser, dessen Respekt vor der hohen Obrigkeit bedingt durch seine ständig Winterpension nahezu unbegrenzt war, folgte ohne Widerstreben zu der kleine Station, in der Willigkeit zusammen mit dem Polizei-Anwärter Kalubke residierte. Hie ließ sich der Wachtmeister die Papiere des Landstreichers vorlegen. Sie waren zu seine nicht geringen Überraschung ohne Tadel. Denn Jan durch Erfahrung klug geworde hielt in dieser Hinsicht auf Ordnung. Willigkeit versuchte es deshalb auf ander Weise. "Auf Betteln steht hierzulande Gefängnis", sagte er drohend.
Jan breitete mit großartiger Geste die Arme aus. "Betteln", sagte er "Wie können Sie so was sagen, Euer Gnaden? Haben Sie mich denn gesehen betteln Möchte ich fragen, wo?" Der Gendarm hatte nicht, wenigstens nicht einwandfrei. Als mußte der Vertreter der örtlichen Polizeigewalt auf etwas anderes sinnen. "Wenn d nicht bettelst, wovon lebst du dann?" fragte er lauernd.
"Man wird sehen", erwiderte Jan gelassen. "Unsereins braucht nicht vie zum Leben." Willigkeit sprang sofort darauf an: "Willst du damit behaupten, da du kein Geld besitzt?" erkundigte er sich. "Ganz richtig, Euer Gnaden" entgegnete Jan arglos. Die paar erbettelten Groschen zählten doch wohl nicht. Außerde waren sie in seinen unergründlichen Hosentaschen gut verborgen.
"Aha", meinte der Gendarm befriedigt, denn nun hatte er seinen Mann in de Falle. "Dann kann ich dich ja einsperren. Als mittellosen Landstreicher nämlich Dafür gibt es eine Bestimmung. Mindestens eine Woche wirst du sitzen müssen." Un er machte sich daran, ein Formular auszufüllen. Jan fuhr ein nicht geringer Schreck in die Glieder. Mitten im schönsten Sommer sollte er in die Zelle? Wo er doch am nahen Se eine Angel ausgelegt hatte, an der vielleicht der kapitalste Hecht zappelte! Und wo e sich mit einem Kollegen von der Landstraße treffen wollte, der ihm zwei Pakete Taba schuldete! Nein, es paßte ihm gar nicht, ausgerechnet jetzt eingesperrt zu werden. Abe was war zu machen, wenn der Herr Gendarm es so wollte? Jan kratzte sich bekümmert de sorgenschweren Kopf.
Und da passierte es! Der Wachtmeister sah es ganz deutlich, und seine Augen weitete sich ungläubig. Aus Jans wildwuchernder Haarwirrnis fielen, durch das Kratze aufgeschreckt, zwei leibhaftige Läuse. In Panik liefen sie über das Protokoll, da Willigkeit gerade zu unterschreiben sich anschickte, und verschwanden eiligst in eine Ritze des Holztisches. Der Gendarm folgte ihnen mit entsetzten Blicken. "Mann" rief er, "du hast ja Läuse!"
Jan nickte voller Gleichmut. "Kann sein", sagte er und begriff nicht, wies der Herrn Gendarmeriestationsvorsteher plötzlich so aufgeregt war. Läuse, das war doc etwas Natürliches; Läuse, die bekam man schon mal, wenn man monatelang auf de Landstraße lag. Das war unabänderlich, dagegen ließ sich nichts tun. Außerdem, was wa schon groß dabei?
In Willigkeits Kopf hingegen überschlugen sich die Gedanken. Man hatte in Jablonke nur eine Arrestzelle. Nahm man den Burschen auf, wurden Decken und Pritsche unweigerlic verdorben. Außerdem lag der Raum direkt neben dem Dienstzimmer. Das bedeutete, man würd sich über kurz oder lang selbst mit den lästigen Tierchen auseinandersetzen müssen Nicht auszudenken, diese Scherereien! Andererseits durfte ein mittelloser Landstreiche zwar eingesperrt, aber nicht einfach davongeschickt werden. Das war gegen die Vorschriften, und die haben einen Beamten heilig zu sein.
Es war schon ein ausgesprochenes Dilemma, in dem sich der Gendarmeriemeister Willigkei urplötzlich befand. Hätte er doch diesen Kerl bloß nicht festgenommen! Aber das war nu nicht mehr zu ändern! Irgendwie mußte man aus der Sache herauskommen. Willigkeit berie sich lange und ausgiebig mit seinem Untergebenen Kalubke. Gemeinsam fanden sie den Ausweg.
Der Polizeigewaltige zerriß vor den erstaunten Augen des Landstreichers da Verhaftungsprotokoll. Dann langte er in die Tasche und zog zwei Markstücke hervor, ei drittes steuerte Kalubke bei. So lag also ein ganzer Taler auf dem Tisch und mit diese Geld ließen sie Jan laufen. Denn nun war den Vorschriften vollauf Genüge getan. De Landstreicher war ja nicht mehr mittellos, zumal man zu dieser Zeit für einen Grosche ein halbes Dutzend Eier erstehen konnte und für zwanzig Pfennig eine Portion Schinken.
Jan trollte sich erleichterten Herzens aus der Gendarmeriestation. Unternehmungslusti klingelte er mit den Münzen in seiner Tasche und lenkte seine beschwingten Schritte zu Dorfkrug. Nach dem dritten Bier und einem doppelten Korn hatte er endlich begriffen, wa ihm passiert war.
Und das bildete den Anfang einer Geschichte, die ziemlich lange spielte. Schon wenig Tage später kratzte sich Jan den Kopf auf der Polizeistation in Grünwiese. Eine Woch drauf tat er das gleiche in Marmeln und bald darauf in Muschaken. Es klappte immer, den Läuse vermehren sich rasch. Und Jan hatte noch nie soviel Geld in der Tasche wie in diesem wahrhaft gesegneten Sommer.
Eines Tages jedoch ging dieses nahezu paradiesische Dasein zu Ende, und Jan trug selbs die Schuld daran. Denn er kratzte sich den Kopf auch bei der Polizei in Neidenburg. Dabe hätte er wissen müssen, daß Neidenburg eine Stadt war, eine Kreisstadt sogar. Und dor gab es auch eine Entlausungsanstalt
"Wetten daß
" auf ostpreußisch
Hermann Kröger schloß die Poststelle ab. Einst hatte ihn das Schicksal von Westfale in den Osten verschlagen. Da ihm das ostdeutsche Städtchen und besonders Marth gefielen, blieb er dort, gründete eine Familie und wurde im Postamt Chef über vie Angestellte, alle Briefmarken und die Postsäcke.
Zu Hause erwartete ihn sein vierfaches Weibervolk, Martha und die drei Kinder: zwe hübsche Mädchen im Backfischalter und der Nachkömmling, der nur "Pummelchen" genannt wurde, ein von allen verwöhnter rundlicher Sonnenschein.
"Guten Abend, Vati!" klang es im Chor. "Na, ihr Rangen." Er klapst seiner Frau leicht auf die Schulter. "Mit euch beiden Großen wette ich um euer Pudding morgen, daß ich in den Hausaufgaben wieder Fehler finden werde. Holt sie mir ma her! Und du, Pummelchen, mit dir wette ich um den süßen Betthupfer heute abend, daß d am längsten am Abendbrottisch sitzen wirst." "Meine Güte, Hermann, geh es denn nicht auch einmal ohne die ewige Wetterei?" Aus Marthas Vorwurf machte e sich wenig. Einer ging ins Wirtshaus, ein anderer rauchte, und er wettete eben gerne.
Am nächsten Tag war das Wetter so schön, daß die Familie "Luft schnappen" wollte. Die beiden älteren Mädchen fanden Ausreden und konnten sich mit Erfolg drücken Der Jüngsten war es gleich, sie trottete hinter ihren Eltern her. "Hallo, Martha wie geht es?" rief Frieda Wohlfromm ihrer ehemaligen Schulfreundin zu. "Sie mal, was ich heute gefunden habe. Meine schönste Murmel aus de Kinderzeit." Sie reichte die Glaskugel aus dem Fenster, groß war sie und in de Mitte mit roten und blauen Fäden durchzogen. Ein Prachtstück! Während die beiden Fraue von früher sprachen, hörte Pummelchen von ihrem Vater: "Ich wette um fünfzi Pfennig, daß die Kugel nicht kaputt geht."
Fünfzig Pfennig ist viel Geld. Versonnen geht Pummelchen um die Hausecke und wirft die Murmel mit ganzer Kraft auf den Pflasterboden. Immer wieder. Peng, jetzt ist sie in zwe Teile zersprungen. Glücklich läuft die Kleine zu ihrem Vater, um den versprochenen Loh einzufordern. Ein doppelter Aufschrei der Frauen, und Hermann tritt peinlich berührt vo einem Fuß auf den anderen.
Schnell setzten sie ihren Spaziergang zum Wald hin fort. Es war Pflanzzeit. Man sah vo weitem, wie ein Anzahl Frauen auf dem Boden kniete und Setzlinge in die Erde brachte Förster Grigull lehnte an einem Baum. Sein dröhnendes Lachen und das Gequietsche de Frauen wehte zu ihnen hinüber. "Ich wette um eine Mark, daß die dort Männerwitz erzählen." Da Martha den Ärger mit der Murmel noch nicht vergessen hatte, sagte si zur Überraschung ihres Mannes: "Ich setze zwei Mark dagegen." Sie ließ sic auf einen Stubben nieder, Pummelchen pflückte Blumen, und das Familienoberhaup marschierte zum Förster, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Grigull klärte ihn von Mann zu Mann auf. Die dralle Frau Witt, eine de Waldarbeiterinnen, hatte eine Pause eingelegt und gab im Dickicht einem großen Jungen au dem Dorf privatissimum Unterricht in einem Fach, das in der Schule nicht gelehrt wurde Hermann eilte zu den Seinen zurück. Vergnügt zückte er die Geldbörse und überga Martha zwei Mark. Noch nie hatte diese erlebt, daß eine verlorene Wette ihren Man erheiterte.
Eine angeheiratete Kusine war gestorben, und für Martha war es selbstverständlich, a der Beerdigung teilzunehmen. Die Familie mußte eben zwei Tage ohne sie auskommen. Fü sie selber hatte das Wiedersehen mit den weitverstreuten Verwandten und die Aussicht einmal ohne Mann und Kinder zu sein, trotz des traurigen Anlasses, etwas Verlockendes Hermanns einziger Kommentar: "Ich wette um eine Mark, daß Onkel Fritz sich kein Wor zu sagen traut unter den strengen Blicken seiner boshaften Alten."
Was machten aber die Daheimgebliebenen? Ausgerechnet an einem dieser Tage stand die Geburtstagsfeier von Lehrer Reuter an. Hermann sollte mit Pummelchen hingehen. Die Männe würden wie stets Skat spielen, und das Kind hatte dort genügend Spielgefährten. E wurde dann wirklich ein heißer Skat gedroschen und dazwischen wieder: "Na, noch ei Kornchen kann nicht schaden" gesagt und das auch gekippt.
Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Kleine sich ausgiebig mit Kartoffelsalat sat gegessen, und es wurde höchste Zeit für sie, ins Bett zu kommen. Ihr Vater hob si schwankend auf den Gepäckträger und mühte sich, selbst das Fahrrad zu besteigen. Diese schien aber eine eigenen Willen zu haben. Hob er das Bein zum Aufsteigen, wich ihm glat das Stahlroß aus.
"Herr Kröger, so wird das nichts. Schieben Sie das Rad!"
"Ich wette, jajajawohl, ich wette um drei Mark, sogar um fünf Mamamark, daß ic fahren kann." Mit schiefem Schwung saß er endlich auf und zickzackte von dannen. E gelang auch gut bis zum kleinen Abhang. Erst zick, bei zack war aber bereits rechts de Abhang, und Vater und Tochter landeten nach kurzem Flug unten im Gras. Hermann hatte e absolut die Sprache verschlagen. Pummelchens helles Stimmchen dagegen erklärte gan nüchtern, nachdem sie den Riß in ihrem Sonntagskleid und das leicht verbogene Vorderra begutachtet hatte: "Ich wette um hundert Mark, daß es Ärger mit Mama gibt."
Der zwölfte Fahrgast |
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