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Erzählungen

 
     
 
Besuch aus Amerika
Von KURT BALTINOWITZ

Ungeduldig spähte Emma durchs Küchenfenster, sich fast den Hals verrenkend, aber von Paul war noch nichts zu sehen. Normalerweise mußte er schon längst zu Hause sein. Ob er wohl wieder mit seinen Arbeitskollegen eine Runde Skat drosch? Emma saß wie auf heißen Kohlen und wollte gerade resigniert ihren "Beobachtungsstand" verlassen, als ihr Ehemann endlich um die Ecke bog und ihr fröhlich zuwinkte.

"Mein Gott, Mannche, wo bleibst du bloß so lange? Hattest dich wieder mal verbiestert?" empfing sie Paul ziemlich aufgeregt.

"Ach was … Ein Kollege hatte Geburtstag, und da haben wir eben ein paar Bierchen geschlabbert", sagte Paul schmunzelnd. "Aber warum bist du denn heute so kribbelig? Gibt’s was Neues?"

"Und ob!" entgegnete Emma mit vibrierender Stimme. "Ein Brief aus Amerika, ganz in Englisch."

"Nanu, wie kommen wir zu der Ehre?"

"Weiß ich auch nicht, jedenfalls hat Onkel Karl geschrieben."

"Onkel Karl?"

"Na, das ist mein Onkel, der 1945 nach Amerika auswanderte."

"Stimmt, davon hast du mir ja schon erzählt", sagte Paul nickend. "Der dürfte die Siebzig längst überschritten haben."

"Das ist völlig egal … Jedenfalls hat er geschrieben und will uns in 14 Tagen besuchen. Wir hatten ja lange nichts mehr von ihm gehört, doch schließlich ist er mein Onkel. Er sollte uns willkommen sein", gab Emma zu verstehen.

"Selbstverständlich, mein Emmchen, nur treten da Probleme auf."

"Inwiefern?"

"Nun, dein Onkel Karl wird kaum noch deutsch sprechen."

"Davon geh’ ich auch aus", pflichtete Emma ihrem Paul bei. "Der Brief ist ja in Englisch abgefaßt … Vorhin war ich bei der Meierschen. Teilweise hat sie ihn schon übersetzt."

"Ach du liebes Lottchen!" stöhnte Paul grinsend. "Seit wann kann die fette Nudel Englisch? Die kann doch kaum richtig …"

"Mach’ sie nicht immer so schlecht. Sie hat Abendschule besucht und spricht mittlerweile zwei Sprachen", konterte Emma.

"Daran zweifele ich nicht: Plattdeutsch und über andere", gab Paul schmunzelnd zurück. "Was du an Englischkenntnissen benötigst, um deinen Onkel Karl gebührend zu empfangen, bringe ich dir in den nächsten Tagen intensiv bei." "So, Emmchen", hub Paul mit stoischer Miene an, als sie nach dem Essen im Wohnzimmer saßen, "jetzt mußt du all deinen Grips zusammennehmen und dir jede Vokabel notieren."

"Jawohl, Herr Lehrer!" lästerte Emma, während Paul nervös im Wörterbuch
blätterte. Nach einer geraumen Weile begann der Unterricht: "Also, zunächst geht es um die Begrüßung deines Onkels …"

"Per Handschlag?" fuhr Emma dazwischen. "Oder umarmen?"

"Werd’ nicht schon wieder albern, Emma … Du empfängst ihn mit folgendem Satz: Have you had a good flight?"

"Wat heet dat?"

"Bist du gut geflogen?"

Emma lächelte verschmitzt und bemerkte: "Aber wenn Onkel Karl per Schiff kommt, was muß ich dann …

"Ausgeschlossen", wehrte Paul ab. "Ein reicher Farmer fliegt! Aber nun weiter: Dann fragst du: How do you do, uncle Karl? Verstanden?"

"Die Meiersche meinte, man könnte auch …"

"Die Meiersche blubbert doch nur Quark zusammen … Ich bin dein Englischlehrer! Bevor Onkel Karl über die Schwelle tritt, sagst du höflich: Come in!"

"Klingt ja fast wie: Komm rin!" frotzelte Emma belustigt. "Und wenn der Onkel im Zimmer ist, was muß ich dann …"

"Ganz einfach: Sit down! Vielleicht find’ ich auch noch eine andere Formulierung. Zunächst bleiben wir bei der ersten."

"Aha", bemerkte Emma und notierte die Vokabeln.

So ging das tagelang. Jeden Abend. Emma lernte fleißig. Paul war stolz auf seine Schülerin. Und dann war es soweit: an einem Sonntag vormittag hielt ein Taxi vor dem Gartentor. Braungebrannt, den Texanerhut lässig in den Nacken geschoben, zwei große Koffer in den Händen, entstieg ein Mann mittleren Alters dem Gefährt und näherte sich schnellen Schrittes Emma und Paul, die wie angewurzelt auf der Haustreppe verharrten, denn der relativ junge Mann konnte nie und nimmer Onkel Karl sein. Ganz egal, Emma Bewährungsstunde schlug. Je näher der Besuch aus Amerika kam, desto höher raste ihr Puls. Kreuz und quer wirbelten die englischen Vokabeln durch ihr Hirn. Und schon stand der freundlich lächelnde Besucher vor ihr. Schweißperlen benetzten ihre Stirn, als sie die erste Frage formulierte: "How have you do you do flight?"

"Very well", antwortete der Amerikaner verschmitzt lächelnd.

"And are you hungry?" fuhr Emma mit bebender Stimme fort.

"Yes, a little!"

"Than come in, look the Rooms, and sit down …"

Nun war es raus. Paul strahlte, daß seine Emma so gut gerlernt hatte. Er flüsterte ihr ins Ohr, nur keine Hemmungen zu haben und den Gast auch weiterhin in Englisch zu unterhalten.

"Are you lucky?" fragte Emma jetzt mit fester Stimme.

"Yes, I am very lucky!" sprudelte es aus dem gut aussehenden Mann heraus. Dann ließ er sich in den Sessel fallen, zündete sich eine dicke Brasil an, streckte die Beine entspannt aus und sagte: "Mir geht es wirklich gut. Ich bin glücklich verheiratet und soll euch vor allem herzliche Grüße von meinem Vater Karl bestellen, der leider nicht kommen konnte. Papa mußte kurzfristig geschäftlich nach Australien. Na ja, und so schickte er eben mich hierher … Ich heiße Michael!"

Fassungslos starrten Emma und Paul in Michaels feixendes Gesicht. "Das darf doch nicht wahr sein!" entfuhr es Emma. "Der Bengel spricht perfekt deutsch, und ich quäl’ mir einen ab, englisch zu sprechen. Warum habt ihr denn den Brief in Englisch geschrieben?"

"Das war unsere Sekretärin. Papa und ich hatten keine Zeit. Auf einer großen Ranch ist man immer voll ausgelastet."

"Aber woher sprichst du so perfekt deutsch?" wollte Paul wissen.

"Nun, schließlich sind wir Deutschamerikaner und pflegen unsere Muttersprache, lesen sogar Das , verfolgen akribisch, was in der Heimat geschieht, schabbern sogar manchmal ostdeutsches Platt. Wollt ihr mal was hören? Op de Lucht, do löppt e Mus, denn de Koter es nich tohus!"

Alle lachten laut auf, das Eis war gebrochen. Man fiel sich in die Arme. Nur Emma schmollte ein wenig: "Un von so een Lorbaß mott ek mi veräpple lote!"

"War nicht so gemeint", tröstete sie Michael. "Un nu lot ons mol kieke, wat in de Koffers drenn es …"

 

 

Der "Babyzitter" und der Freiheitsdurst
Von CHRISTEL POEPKE

Also – wenn man die Babysitter so reden hört, dann können die heimkehrenden Eltern froh sein, sie nicht mit zertrümmertem Nasenbein und mit ihrem eigenen Schlips erdrosselt vorzufinden. Nun mag das von Fall zu Fall zutreffen – im allgemeinen glaube ich aber doch, daß eher umgekehrt ein Schuh daraus wird und daß eine gewisse Sorte von Babysittern froh sein sollte, daß ihre "gesitteten" Babys noch nicht so recht reden könne, sonst würde wahrscheinlich sehr schnell klar, daß das Haarsträuben meist auf Gegenseitigkeit beruht.

Anlaß zu dieser Behauptung lieferte mir vor kurzem meine kleine, inzwischen aber recht redegewandte Nichte Katrin – oder Trinchen, wie sie zu ihrem Kummer von der Familie liebevoll genannt wird. Trinchens Vorwürfe gipfelten jedenfalls in "Freiheitsberaubung", ein Zustand, der bei ihr noch vor "Spinatessen" kam. Also, sie wolle auf keinen Fall nochmals einen "Babizitter" haben.

Ja, Sie haben richtig gelesen, sie hat "Babyzitter" gesagt, und sie hat auch "Babyzitter" gemeint!

Wenn ich so darüber nachdenke: ich kann Trinchen sehr gut verstehen. Ich habe selbst in zartestem Alter Erfahrungen mit einem solchen Babyzitter gemacht, die mich bis heute allem Männlichen gegenüber zutiefst mißtrauisch sein lassen. Und zwar handelte es sich dabei um meinen sommersprossigen, äußerst praktisch veranlagten Vetter Fritz, den man mir von Zeit zu Zeit als Babysitter zumutete, obwohl er mit seinen sieben Jahren selbst dringend einen gebraucht hätte.

Daß er dieses Kinderhüten – die Bezeichnung Babysitter wurde damals nur in vornehmen Kreisen gebraucht, zu denen wir nicht gehör-ten –, also, daß er dieses Kinderhüten als beschämende Zumutung empfand, kann ich dem Jungen heute noch nachempfinden. Schließlich hat ein Siebenjähriger wirklich Wichtigeres zu tun, als kleine Mädchen zu hüten.

Und ich gebe zu: ich war wohl auch eine kleine Hexe. Jedenfalls erinnere ich mich daran, ihm einmal mit der Zipfelmütze meines hölzernen Kaspers fast die Augen ausgehackt zuhaben, woraufhin er mich – zu Recht! – mit seinen Spielzeugeisenbahnschienen um ein Haar erschlagen hätte, was wir uns heute noch bei Familienzusammenkünften vorwerfen.

Nun, dieser Vorfall mag wohl den letzten Anstoß zu jenem Vorfall gegeben haben, von dem ich hier berichten möchte.

Meine Eltern waren zu dringenden Besorgungen in die Stadt gefahren, und damit hatte Fritz mal wieder das Vergnügen mit mir. Ich schwöre, daß ich an den nun folgenden Ereignissen völlig unschuldig war, denn der gute Fritz ließ es erst gar nicht so weit kommen. Vielmehr holte er sich schnurstracks aus der Kammer Vaters Werkzeugkiste, plazierte mich mitten auf den Dielenfußboden und verteilte mein Kattunröckchen fein gleichmäßig um mich herum. Und ich – ich sah ihm auch noch voller Bewunderung zu, wie er sich eine Reihe von Nägeln zwischen die Lippen klemmte, genau, wie er es bei meinem Vater während der Arbeit beobachtet hatte.

Daß ich während seines weiteren Vorgehens nun auch noch vor Vergnügen gequietscht haben soll, wie er mir jetzt weismachen will, ist allenfalls meiner Begeisterung für alles Neue zuzurechnen, die mir auch heute noch manchen Streich spielt. Jedenfalls begann der liebe Fritz voller Ingrimm Nagel für Nagel in etwa Handspannenabschnitt durch mein Röckchen in die Dielen zu polken. Und ich – ich soll immer noch gequietscht haben vor Vergnügen!

Daß ich hier festgenagelt wurde, ging meinem damals noch recht harmlosen Gemüt etwas zu spät auf – nämlich, als ich rundrum festsaß und und der gute Fritz sich grinsend verzog. Den Gummiball, den er mir noch anstandshalber vor den Bauch geklemmt hatte, feuerte ich im nächsten Moment hinter ihm her, traf ihn natürlich nicht, und damit war der Spaß für mich beendet. Nicht aber meine Gefangenschaft. Und das nahm ich übel!

Dieser Augenblick muß wohl der Auslöser für meinen bis heute anhaltenden Freiheitsdurst gewesen sein, jedenfalls war es so ziemlich das letzte Mal, daß ich mich auf irgend etwas festnageln ließ. Gleichzeitig aber auch mein erstes Erfolgserlebnis in punkto Emanzipation.

Nicht mit mir, hab ich da wohl gedacht. So was macht man nicht mit mir, und begann damit, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen – besser gesagt: in die Faust! Denn was nun kam, das glaubt nur, wer mich richtig kennt. Und richtig kennt mich nur, wer mich schon mal in Wut gesehen hat. Dann gibt es nämlich Fetzen! So auch in eben diesem Augenblick.

Mit beiden Händen krallte ich mich in meinem Kattunrock fest und begann zu zurren und dabei zu brüllen, wie es für ein kleines Mädchen wohl höchst unschicklich war. Das genierte mich in diesem Moment allerdings genausowenig wie mein puderroter Kopf und die nasse Hose, die ich mir dabei einhandelte. Wichtig war nur der Erfolg. Und der stellte sich denn auch nach entsprechender Zeit ein.

"Ritsch" machte es plötzlich, und nochmal "Ritsch" und "Ratsch" und "Ratsch" und "Ritsch" und – plumps … lag ich auf dem Rücken!

Wie ich die Sache dann hintenherum auch noch fertigkriegte, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich meinen heimkehrenden Eltern mitsamt meinem zerfetzten Kattunrock und meiner nassen Büx entgegenstampfte und dabei äußerst zufrieden gelächelt haben soll.

Nun ja – wie das so ist – im Laufe der Jahre hat mich mein Freiheitsdurst natürlich einiges mehr gekostet, als ein zerfetztes Kattunröckchen, aber … das Lächeln darüber habe ich mir vorbehalten.

 

 

Die Zeit ist wie ein Raum
Von EDELTRAUD ROSTEK, Pastorin i. R.

Ein östliches Märchen erzählt:
Es war einmal ein König, geachtet und beliebt bei seinem Volk. Seinen Untertanen gab er, was sie brauchten. Von ihm berichtete man, er ginge jeden Morgen in einen unteren Raum seines Schlosses und verblieb dort eine lange Zeit. Was er dort tat, wußten die Menschen nicht.

Am Ende seines Lebens führte er seinen Sohn in das Gemach – das ganz leer war –, ließ ihn dort eine Nacht zurück und fragte: "Was wirst du tun mit diesem Raum?"

"Ich werde ihn zumauern", entgegnete der Sohn.

Da ließ ihn der Vater eine zweit Nacht dort verweilen und erkundigte sich wieder, was er mit dem Raum tun wolle. Der Sohn erwiderte: "Ich möchte ihn füllen, aber ich weiß nicht wie." Nachdem er dort eine dritte Nacht ruhig geschlafen hatte, antwortete er: "Ich werde wie du jeden Tag einmal in den Raum einkehren." Und er war geachtet und beliebt wie sein Vater und gab seinen Untertanen, was sie brauchten.

Der leere Raum stellt die Zeit dar, in der Menschen sich besinnen. Geheimnisvoll bleibt sie der Außenwelt. Wenn wir sie aber entdecken und wahrnehmen, können wir jedem soviel von ihr – und allem geben, was er zum Leben braucht.

Der Sonntag, der Ruhetag der Woche, ein paar Minuten an jedem Morgen können ein – von materiellen Dingen freier – Raum sein, in dem wir erkennen: Wir haben immer Zeit, das zu tun, was Gott uns zu tun aufgibt.

 
     
     
 
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