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Freibrief für Faulenzer

 
     
 
Das ist gewiß eine frohe Kunde für Schüler: Elternvertreter und Politiker setzen sich an verschiedenen Orten dafür ein, das Sitzenbleiben wenn schon nicht ganz abzuschaffen, so doch deutlich zu reduzieren. Solche Debatten flammen immer wieder auf, regelmäßig vor den Versetzungsterminen vor den sogenannten großen Ferien im Sommer. So ist es auch diesmal. Die Fronten sind bekannt: radikal die GEW (grundsätzlich gegen die Maßnahme), gemäßigt Experten aus den Schulen (soweit als möglich vermeiden) und ab und zu auch ein Hardliner (dann geht alles drunter und drüber).

Bisher gilt: Nicht versetzt wird man dann, wenn das Klassenziel nicht erreicht wurde. Gängig dürfte neben mangeln
den Fähigkeiten, den Stoff zu erarbeiten, die Kombination von "null Bock" und entsprechenden "Leistungen" sein. Unterstützende Maßnahmen, begleitende Hilfen, um nach Möglichkeit erfolgreich zu sein, wird jeder begrüßen. Aber auch hier gibt es ein "endlich". Der Vorschlag, das Sitzenbleiben gänzlich abzuschaffen, mutet ebenso unbeholfen wie weltfremd an. Was soll denn mit denjenigen geschehen, die partout das Klassenziel immer wieder nicht erreichen? Will man sie weiter durchschleppen, wobei sie für die übrigen Mitschüler zur Last bei deren Lernfortschritt werden können. Schließlich sollte man bedenken, daß auch Lehrern eine begrenzte Leidensfähigkeit zugestanden werden muß. Und sollen leistungsschwache Schüler, wenn es zu einer Abschlußprüfung kommt, diese auch passieren, selbst wenn die Ergebnisse nicht ausreichen? Also Abschlußzeugnis durch aus der Politik bekanntes Aussitzen, treffender wohl: Ersitzen? Zu dieser Frage hat sich bisher noch keiner der reformfreudigen Kräfte geäußert. Ein Durchschleppen ohne Abschluß würde bedeuten, daß die Betroffnen ein "teilgenommen" bescheinigt erhielten. Bei näherem Hinsehen müßte man feststellen, daß womöglich über mehrere Stufen unzureichende Leistungen vorgelegen haben. Die Chance, wieder "Fuß zu fassen" -, und auch das kann die Wiederholung einer Klasse bewirken - hat nicht bestanden.

Daß "Sitzenbleiben" so weit als möglich vermieden werden sollte, findet gewiß Zustimmung. So könnte man denjenigen, die das Ziel der Klasse nicht erreicht haben, am Ende der Ferien, vor Beginn des neuen Schuljahrs, die Möglichkeit einer Prüfung einräumen, mit der nachgewiesen werden kann, das die Defizite durch intensive Beschäftigung mit dem Stoff in den Ferien ausgeglichen worden sind. Diese Möglichkeit wird auch verschiedentlich praktiziert. Der Hinweis, daß damit die Ferien belastet würden, ist ebenso wohlfeil wie überflüssig. Wer nicht will, muß sich einer solchen Prozedur nicht unterwerfen. So sehr diese Nachholmöglichkeit zu begrüßen ist, birgt sie allerdings auch eine Gefahr: Gewiefte Taktiker könnten von vornherein darauf setzen. Aber eine bestimmte Pennälermentalität, die es immer unter Schülern gegeben hat, wird nicht auszutreiben sein. Im übrigen: Wir können uns nicht köstlich über das Treiben in der Feuerzangenbowle amüsieren und dann, wenn Splitter davon in der Wirklichkeit auftauchen, diese bierernst geißeln.

Sofern die Wiederholung der Klasse eine Signalwirkung auf die Betroffenen hat, es also nicht in erster Linie mangelnde Fähigkeiten, sondern schlichte Faulheit war, die zu der negativen Feststellung geführt hat, ist ein Jahr Zeitverlust in der Tat ein hoher Preis. Auch der Einwand, Sitzenbleiber würden nicht unbedingt ihre Leistungen verbessern, obwohl ihnen der Stoff im großen und ganzen doch bekannt sein müßte, ist nicht von der Hand zu weisen. Bevor man nun von einer hergebrachten Verfahrensweise ins Gegenteil umschwenkt, also womöglich das Sitzenbleiben völlig abschafft, sollte man nach vermittelnden Lösungen suchen.

Was spricht eigentlich dagegen, die Schulzeit in Halbjahreszyklen aufzuteilen? Nun kann man einwenden, daß eine solche Radikalkur unangebracht sei, wo es doch nur um den kleineren Teil der Schüler gehe. Schließlich seien damit organisatorische Probleme verbunden; man müsse Stoff und Stundenplan entsprechend neu gestalten. Im Ernst kann das nicht gelten. Schließlich wird auch im geltenden System das zu Erlernende in entsprechende Abschnitte eingeteilt. Und für die Stundenplangestaltung gilt das gleiche. Nur werden die Lehrkräfte regelmäßig nicht jedes halbe Jahr auf die Klassen verteilt. Aber das könnte ja so bleiben.

Die Gliederung der Schulzeit in Halbjahresabschnitte hätte auch einen anderen ganz wesentlichen Effekt: Bei der Einschulung geht es heute ebenfalls um alles oder nichts, nämlich um ein ganzes Jahr. Entweder das Kind kommt mit sechs Jahren in die Schule oder muß ein Jahr lang warten und ist dann bereits sieben. Es dürfte wohl unstreitig sein, daß der kindlichen Entwicklung hier besser entsprochen würde, wenn es eine Zwischenlösung gäbe. Die Einschulung nur zu einem Termin im Jahr ist ein Zeichen von Unbeweglichkeit - vielleicht sogar Bequemlichkeit. Gründe dafür - wenn es sie denn gibt - liegen mit Sicherheit nicht im Interesse der ABC-Schützen.

Niemand verkennt, daß eine solche Umgestaltung des Schulwesens organisatorische Probleme mit sich bringt. Aber sind die wirklich so erheblich, daß sie verhindern, Lösungen zu finden, die den Interessen derer gerecht werden, für die Schule da ist, mögen es Sitzenbleiber oder Erstkläßler sein?

Wenn man die Chancen der Umsetzung der Idee realistisch einschätzt, wird man nicht sehr optimistisch sein können. Die Beharrungskräfte derjenigen, die zwar für die Schüler sprechen, in erster Linie aber ihre Verbandsinteressen vertreten, erweisen sich stets als extrem stark. Es geht in der Regel nicht darum, was für die der Schule Anvertrauten am besten ist, sondern ob eine bessere Besoldung oder eine Verkürzung der Arbeitszeit durchgesetzt werden kann. Ein solches gewerkschaftliches Denken überdeckt das, worum es gehen sollte: eine gute Ausbildung, das Wohl der Kinder, aber auch das Erlernen von Regeln und das Respektieren von Grenzen. In gewisser Weise gehört auch das Sitzenbleiben, als ein in Aussicht stehendes Übel oder als Sanktion, dazu.
 
     
     
 
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