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Von gestern ist, wer nicht auf der Höhe der Zeit ist. Kein Vorwurf wiegt in einer Gesellschaft, die sich modern nennt, schwerer. Nur wer den Zeitgeist lebt und atmet, ist erfolgreich, nur der kann mitreden. Kaum ein Begriff ist in den vergangenen Jahren inflationärer ge- und mißbraucht worden. Und lange schon hat er mit jener philosophischen Geistesrichtung des deutschen Idealismus nichts mehr zu tun, die im "Zeitgeist" den objektiven Geist der Geschichte (Hegel ) vermutete.
So jagte die protestantische Kirche dem Zeitgeist nach und verlor dabei ihre Orientierung. Erst allmählich beginnt sie, sich wieder auf ihre originäre Aufgabenerfüllung zu konzentrieren: die Vermittlung und Erklärung des Glaubens. Zeitgeistdurchsetzt war lange auch die Erziehung. Antiautoritär mußte sie sein, bis zuletzt selbst dem Aufgeklärtesten aufging, daß Respekt und Achtung vor dem Alter keine so schlechten Werte sind.
Ob immateriell oder materiell - schrankenlos ergriff der Zeitgeist Besitz von allem, was in der Sprache der Jugendlichen auch mit "trendy" übersetzt wird. Vom Lifestyle-Magazin bis zum morgendlichen Fruchtsaft ("Lebensfreude pur"), vom Autodesign bis zur Mode - alles war von diesem Geist (oder Ungeist?) erfaßt.
Doch nun endlich naht Rettung. Klagt doch das CDU-Präsidiumsmitglied Jörg Schönbohm, seine Partei dürfe jetzt "nicht nur dem Zeitgeist nachjagen". Jetzt heißt: nach verlorener Wahl. Und wovor Brandenburgs stellvertretender Ministerpräsident warnt, ist, daß seine CDU nicht den Modernismus rot-grüner Politik nachäffen dürfe.
Armer Schönbohm! Sein Widerstand gegen das Bündnis von Zeit und Geist mag ehrenhaft sein. Doch schon der alte Goethe resümierte am Ende seines Lebens, daß dem "Zeitgeist nicht zu widerstehen" sei. Denn dieser Geist ist längst Verbündeter derer geworden, die um die Gunst der Massen buhlen. Wie pflegen doch Politiker bei knappen Wahlausgängen zu sagen: Mehrheit ist Mehrheit. n
Der Autor ist als Chefkorrespondent für das Hamburger Abendblatt tätig.
Und was Goethe sonst noch zum Thema Zeitgeist mitzuteilen hatte: "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln."
(Faust, Der Tragödie erster Tei |
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