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Gedanken für Intellektuelle

 
     
 
Was ist bloß mit diesem Jahrhundert los? Die scharfen Konturen, die uns bis vor wenigen Jahren festen Halt und Vorurteil gaben, schmelzen dahin wie Butter an der Sonne. Das 20. Jahrhundert hatten wir glasklaren Blicks verlassen. Wir wußten, wer die Guten waren und wer die Bösen, und die Guten und die Bösen wußten das auch. Deshalb konnten die Guten die Bösen belehren und beschimpfen, ohne daß sich die Bösen ernsthaft darüber beschwerten, was den Belehrer- und Beschimpferberuf enorm erleichterte und überaus erstrebenswert machte. Wer es in der Branche weit nach oben schaffte, wurde sogar gut bezahlt und überdies ob seiner politischen Reinheit und seines Muts gepriesen: Moralischer Ruhm und finanzieller Reichtum waren dann eins - wann gab es das schon in der Geschichte? Um ihre hervorgehobene Stellung zu bewahren, achteten die Guten darauf, daß nur ausgewähltes Personal in die eigenen Reihen aufstieg. Auch innerhalb des Standes herrschte eine geordnete Hierarchie, an deren Spitze Leute standen, welche Titel wie „Das Gewissen der Nation“ oder „Ewiger Mahner und Warner“ trugen. 

Die Ehrungen steckten sie, die Besten der Guten, sich entweder gegenseitig ans Revers oder die ergebene Masse der unteren Guten verlieh sie ihnen unter andächtig- ehrfürchiger Verbeugung. Wobei jeder der Jubler leise hoffte, irgendwann von einem der Großen als Dank für die Schleimerei selbst in den Areopag gebete
n zu werden. Dann hätte man es geschafft. Günter Grass saß am Kopfende der edlen Tafel. Er war so gut, daß selbst seine finstersten Bösartigkeiten noch überstrahlt wurden von seiner makellosen Aura. Vergangene Woche verließ er uns. Wie wir meinten, nur kurz, um einer Zeitung ein Interview zu geben. Ein entsetzlicher Irrtum. Zurück kam nicht der große Grass, sondern ein Wicht. Statt wieder Platz zu nehmen auf seinem Thron, rutschte er in einem Schuß von der Spitze in die Pfütze, wo die häßlichen kleinen Schmutzfinken hocken, die so gern mit Dreck werfen oder in anderer Leute Nasen bohren. All die schönen Ehrungen, die ihm einst überreicht wurden, sind von dem selben Matsch entstellt, den er selbst über Jahrzehnte gegen die Bösen geschleudert hatte. Etwa gegen Kanzler Kohl, als der vor 21 Jahren in Bitburg stand, wo auch 49 Waffen-SS-Männer ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Nun erfahren wir, daß es nur einem Zufall zu danken ist, daß Grass nicht mit 17 der 50. Verfemte wurde. Wäre er doch wenigstens einer von den „Verdächtigen“ gewesen, so ein Ausgestoßener oder Gemiedener wie Martin Walser beispielsweise. Dann könnten die Guten jetzt laut „Aha!“ rufen, ein „Ewiger Mahner und Warner “ könnte den Richtspruch fällen und die Löwen loslassen. Fortschrittliche Kabarettisten hätten ihre grelle Freude an „SSGünter“. 

So liegen die Dinge aber nicht. Die Elite der Guten muß entsetzt mitansehen, wie einer der Ihren strauchelt und von den eigenen Anmaßungen stranguliert wird. Das macht Angst. Wie schnell das gehen kann! Behutsam versuchen einige der obersten Guten die Wogen zu glätten und ihren Standesgenossen zu retten. Ralph Giordano etwa oder Wolfgang Thierse sind verzweifelt bemüht, Grass im Olymp zu halten. Der Präsident der Schriftstellervereinigung P.E.N. Deutschland, Johano Strasser, reitet eine Entlastungsattacke: Da wollten dem Grass wohl einige „etwas heimzahlen“. Giordano, Thierse oder Strasser spüren jenes Unwohlsein, das vor über 200 Jahren schon die gekrönten Häupter Europas durchfuhr, als sie den Kopf ihres Pariser Vetters in den Korb plumpsen sahen. Das Verheerende an solchen Vorgängen ist ja, daß der Pöbel die Angst vor seinen Zuchtmeistern verliert, wenn er plötzlich erkennt, wie zerbrechlich deren Macht in Wahrheit ist. Somit erschüttert Grass’ Fahrt in den Orkus das ganze Gefüge. Denn wenn der Pöbel keine Angst mehr hat vor den Richtsprüchen der obersten Guten, dann ist es um deren Herrschaft geschehen. Dann gilt am Ende gar noch das Gesetz des „gleichen Rechts für alle“, statt des Gutdünkens des selbsterwählten Moral-Adels. Jeder könnte womöglich jedem widersprechen, wie es ihm gerade gefällt und die goldene Regel des Moralistenregimes - „Wenn zwei das gleiche sagen, ist es noch lange nicht dasselbe!“ - wäre außer Kraft. Bislang war es zum Beispiel ein gewaltiger Unterschied, ob Günter Grass einen konservativen Politiker beschimpfte oder ein konservativer Politiker den Grass. Der Politiker hatte sich da nämlich einer Art verbaler Bücherverbrennung schuldig gemacht, die an gewisse „Kapitel der deutschen Geschichte“ gemahnte und allen Abscheu wehrt war. Im umgekehrten Fall hatte sich hingegen das Gewissen eines ungequemen Denkers aufgebäumt gegen bedenkliche Tendenzen. Wie immer, wenn ein Herrscher stürzt, trifft es seine Fußtruppen besonders hart. Wie oft ist man mit Grass vorneweg in die Schlachten des moralischen Vernichtungskrieges gezogen? Und nun? Spontan denkt man natürlich an einen Gegenangriff, wie Strasser ihn vorführt, damit die Gut-Böse-Verteilung erhalten bleibt. Nicht der überführte Lügner ist der Überltäter, sondern die, welche ihm die jahrzehntelange Heuchelei vorhalten, weil sie das nämlich aus niederen Motiven machen. Nicht gerade eine intelligente Strategie, aber immerhin ein probates Allzweckmittel, da sich Täter- und Opferrolle damit ganz und gar beliebig verteilen lassen. Wie die meisten Allzweckmittel ist es allerdings nicht sehr zielgenau und verpufft bisweilen. 

Das scheint diesmal passiert zu sein. Grass selbst brauchte wie der tragische König von Frankreich eine Weile, bis er begriff, daß seine Herrlichkeit abrupt kollabiert ist. Ludwig XVI. kritzelte am Abend des 14. Juli 1789 so etwas wie „Keine besonderen Vorkommnisse“ in sein Tagebuch, dabei stand das königliche Regiment bereits seit dem Morgen jenes Tages in hellen Flammen. Grass wiederholte in dem „FAZ“-Interview unverdrossen noch einmal seine moralischen Todesurteile gegen Kiesinger („ehemaliger Groß-Nazi“) und Adenauer („grauenhaft“) - ganz so, als säße er noch auf dem erhabenen Richterstuhl. Die „Verdrängung der Vergangenheit“, die er für das eklige, alles überziehende Grundmerkmal der ersten 20 Jahre Bundesrepublik hält, prangert er auch dann noch an, als er sich selbst als großen „Verdränger“ entlarvt. Das hat schon wieder was! Kann aber noch übertroffen werden: Gregor Gysi verteidigt Grass, der die DDR bekanntlich als „komode Diktatur“ weichzeichnete, mit einer wahrhaft bahnbrechenden Theorie, die weit über dem öden Gemoser von den angeblichen „Motiven“ der Kritiker steht: Das „Klima der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“ sei verantwortlich, daß Grass sich nicht zu seiner kurzen Waffen-SS-Zugehörigkeit bekannt habe. Der Literat muß laut Gysi nämlich gefürchtet haben, daß „ihn die Falschen vor Verurteilungen in Schutz genommen“ hätten. Gysi! Du bist ein Genie! Das ist unbezweifelbar die eleganteste Version von „Und grüß mich nicht unter den Linden“, die wir seit langer Zeit vernommen haben. Also: Weil Grass damals durch ein Bekenntnis optisch in die Nähe jener Leute geraten wären, die er moralisch fertigzumachen suchte, mußte der Politautor seine Biographie ein wenig ummöblieren. Sonst hätten seine Urteile womöglich an Zerstörungskraft eingebüßt. Wahrheit? Das Ergebnis muß stimmen! Gysi gibt einen Schnellkurs darin, wie Kommunisten Politik und Moral über alle erdenklichen Widersprüche hinweg in eine für sie nützliche Konstellation bringen. Wenn es um Agitprop geht, haben die Dunkelroten halt einen Sinn fürs Praktische, der sie immer auf der „guten“ Seite ankommen läßt. Wenigstenes bei ihnen halten die Regeln des 20. Jahrhunderts noch. Sonst aber sieht es eher schlecht aus.
 
     
     
 
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