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Hannas Kette

 
     
 
Der Fernzug läuft auf dem Hauptbahnhof ein und hält. Türen werden aufgerissen, Winken, Rufen, Freude des Wiedersehens, zögernde Begegnungen. Der Lautsprecher verkündet einen Zehn-Minuten-Aufenthalt.

Ein älterer Herr lehnt in einem der offenen Zugfenster, zündet sich eine Zigarre an und blickt dann mit dem müden, etwas gelangweilten Gesicht eines Mannes, der oft auf Reisen ist, auf den Bahnsteig. Er winkt einen Zeitungshändler herbei und tritt in das Abteil an der anderen Seite des Wagens zurück.

Der Mann setzt sich in eine Fensterecke des Abteils, fingert nach der Brille
in seiner Westentasche und starrt auf das Nachbargleis, auf dem gerade ein Personenzug einfährt. Ihm genau gegenüber befindet sich nun ein Fenster des anderen Zuges. Er kann das Abteil sehen, in dem sich die Menschen zur Ausgangstür drängen. Nur eine Frau bleibt leicht zurückgelehnt in der gegenüberliegenden Fensterecke sitzen.

Eine Frau mit weißem Haar. Sie hebt einmal flüchtig den Kopf. Die dunklen Gläser der Sonnenbrille lassen nicht erkennen, wohin sie blickt. Dann neigt sie sich wieder über das aufgeschlagene Buch. Der Herr rückt seine Brille zurecht und schlägt die Zeitung auf. Aber er liest nicht. Sein Blick trifft die Armbanduhr, doch er sieht die Zeiger nicht. Irgend etwas war doch eben da, was bekannt, ja vertraut schien. Eine Erinnerung - woran? An einen Sommer vor langen, ach wie langen Jahren. An einen Sommer an der See, da oben irgendwo - ja, in Ostdeutschland!

Aber was war es gewesen? War es so plötzlich gekommen, ganz ohne Grund? Er hatte doch nie mehr an diesen Samlandsommer gedacht. Höchstens einmal sehr flüchtig, wenn das Gespräch auf Ostdeutschland kam. Ja, da bin ich auch gewesen ...

Er schüttelt den Kopf und zieht die Brauen zusammen. Sein Blick fällt auf die Frau am anderen Fenster. Man kann nur das Haar sehen, die Brille, den Nasenrücken, den Hals.

Die Kette! denkt der Herr im Kopenhagen-Expreß. Natürlich, das war es! Die Kette!

Es ist eine Bernsteinkette, aus unregelmäßigen, rohen Stücken zusammengefügt: braune, rötliche, gelbgraue, matte und dann leuchtend helle, honigfarbene.

Hanna! denkt der alte Herr.

Ja, sie hieß Hanna. Sie trug solch eine Kette. Er und sie hatten die Bernsteinstückchen aus dem Muschelrand des Meeres gesucht, damals in jenem Samlandsommer, als er drei Monate lang in Groß-Kuhren wohnte. Oder war es Klein-Kuhren? Ach, wer soll das jetzt noch wissen?

Aber Hanna ist noch da. Hanna mit ihren hellen, fast grünen Augen, die genau so waren wie der Himmel über der See, dieser unfaßbar helle, perlmutterne Sommerhimmel. Hanna, das ist blondes, glattes Haar, ist sonnenbraune Haut, ist ein großer Mund, der so gut lachen kann. Hanna, das ist eine feste, ein wenig rauhe Mädchenhand, die in der seinen liegt, das sind schlanke, kräftig ausschreitende Beine, um die auslaufende Wellchen kreiseln, ist ein nasses Gesicht unter glatter Badehaube, das sich hinter der brandenden Woge emporreckt. Hanna, das ist Kühle der See und Glut des Sommertages, sind blaue Lupinen - wo hat er je wieder solche blühenden Lupinenhänge gesehen wie an der Steilküste da oben?

Sie arbeitete in jenem Sommer in einer kleinen Pension, die einer Tante gehörte. In den zwei spärlichen Mittagsstunden, wenn sie sich an der Bank bei den Vogelbeerbäumen trafen - Quitschen, sagte Hanna, so fällt es ihm ein -, war Hanna oft müde. Dann gingen sie zum Strand hinab, Hanna kuschelte sich in den warmen Sand, und es geschah nicht selten, daß sie dabei einschlief. Er beobachtete dann auf in den Sand gestützten Ellenbogen ihr Gesicht, das wie eine großflächige, vertraute Landschaft war mit dem im Schlaf leicht nach oben gezogenen Bogen der vollen Lippen, mit den dunk-len, dichten Brauen, die in solch reizvollem Gegensatz zu den blonden Haaren standen und mit der geraden Nase, durch deren Flügel das Sonnenlicht schimmerte.

Das Gesicht begann zu leben, wenn Hanna erwachte und die Augen aufschlug. Er hatte die Augen oft gemalt, aber das Helle, Leuchtende, hatte er nie wiederzugeben vermocht. Ja, damals hatte er noch die Illusion gehabt, Maler zu werden. Deshalb war er für jenen Sommer nach Ostdeutschland gegangen, "dort, wo das Licht zu Hause ist!" hatte sein alter Professor gesagt.

In welch einem anderen Leben war das gewesen? Und was hatte ihn zurückgeführt? Ach ja, die Kette!

Er blickte wieder hinüber zu der Frau, die nicht aufsieht. Aber die Kette ist da, die Kette aus Bern-steinstücken. Hannas Kette! Fast jeden Tag hatten sie etwas am Strand gefunden, kleine honiggelbe Splitter und größere, matte, fast hornige Stücke. Eines Tages war Hanna zu ihm gekommen und hatte ihre Schachtel mitgebracht. Sie hatten die schönsten, meist klaren Stücke herausgesucht, sie mit einer glühenden Nadel durchbohrt und auf eine Schnur gezogen. Als er Hanna die Kette um den Hals legte, hatte er sie geküßt. Es gibt nichts, was dir besser stehen könnte, Hanna - hatte er gesagt. Und dann hatte er sie gemalt.

Wo war das Pastell, wo waren die Bilder aus jenen Tagen? Irgendwo in Berlin unter Mauerschutt. Unter neuen Wohnblocks, unter Straßenpflaster, unter grünen Anlagen. Verbrannt, verweht, vergraben - als wären sie nie gewesen.

Und er? Heute ein erfolgreicher Immobilien-Makler, auf Großprojekte spezialisiert. Wie der Schwiegervater, dessen Firma er übernommen hatte. Irene, die Frau, die eine sichere Existenz wollte (nur keine Halbheiten, mein Lieber!), das Haus am Rand der großen Stadt, ein schöner Besitz, gepflegt, viel bewundert und noch mehr beneidet. Die Kinder, die Töchter verheiratet, gut situiert, der Junge selbstsicher wie der Großvater. Und dann die Enkel, zwei, bald drei ...

"Wenn wir eine Tochter haben, soll sie Hanna heißen wie du ..." Hatte er das wirklich einmal gesagt?

Der Mann schreckt auf: Sein Zug fährt ab. Er beugt sich vor und sieht noch einmal zu der Frau in dem stehenden Personenzug hinüber. Sie hat das Buch sinken lassen, nimmt die Brille ab. Nun sind sie ganz nahe beieinander. Sie hebt den Kopf und blickt ihn an.

Es ist ein stilles Gesicht mit einem dünnen Mund, blaß und sehr müde. Ein fremdes Gesicht mit fremdem Blick. Nur die Augen sind so, als warteten sie darauf, in den Himmel zu blicken: ganz hell, von grünlichem Blau. Augen, die Weite suchen, um sich darin wiederzufinden.

Dann ist alles vorbei.

(Entnommen aus Werner Müller, "Kurische Legende und andere Erzählungen", Hamburg 2003).

Ursel Dörr: Eisige Fluten (Aquarell)

 

Mein Fenster ist angelehnt
von Christel Poepke

Ich laß

mein Fenster angelehnt,

falls der Abend sich verspätet,

falls er nicht daherkommt,

stolz und schön

aus den Ebenen,

mit Kirschenaugen

und jadgrünem Haar,

sondern müd und grau,

auf dünnhäutigen Sohlen,

den silbernen Stirnreif

in Händen.

Er weiß:

mein Fenster ist angelehnt -

das Kissen für ihn ist gewärmt.

Und während mein Zeisig

das Käppchen ihm bringt,

- das aus dem fünffachen Samt,

stopf ich ihm die Pfeife

mit kleinen Geschichten.
 
     
     
 
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