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"Die Tokarjewa kennt das Leben", lobt Alice Schwarzer die 1937 in St. Petersburg geborene Viktorija Tokarjewa. Und auch Elke Heidenreich ist von dem Witz und dem Leben der Autorin angetan. Auch in dem Roman "Glücksvogel" greift die Schriftstellerin sich ein Thema aus dem Leben.
"Flieg zu mir, flieg zu mir, du Vogel des Glücks ..." Romanheldin Nadka träumt davon, daß der im Volkslied besungene Glücksvogel eines Tages zu ihr kommt. In ihrer Kindheit mußte sie zurückstecken. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf dem Land auf, weil ihre Mutter sie in der Stadt nicht gebrauchen konnte. Ihre Eltern hatten sich bei einem Universitätsball kennengelernt. Die Mutter steckte mitten in Diplomprüfungen, und der Vater ließ sie sitzen. Von ihm blieb Nadka nur ihr asiatisches Aussehen, die starken, fast schwarzen Haare und die avocadofarbenen Augen.
In verbotenen bunten Journalen hatte sie gelesen, daß es im Westen Millionäre geben soll. Ihr großes Ideal ist Onassis. Es muß doch möglich sein, sich solch einen Glücksvogel zu angeln! Vom Lernen hält Nadka nichts, die Großeltern sind die Auseinandersetzungen mit ihr bald leid und schicken sie zur Mutter nach Moskau. Mutter Xenia ist inzwischen eine Künstlerin geworden, die ihr bescheidenes Auskommen hat und damit zufrieden ist. Doch dieses Leben genügt Nadka nicht. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrem Glücksvogel. In dem deutschen Ingenieur Günther glaubt sie ihn gefunden zu haben. Er heiratet sie und nimmt sie mit nach Deutschland. Nadka geht es gut, doch sie spürt, daß sie kein Glück gefunden hat. Sie sucht es bei anderen Männern. Ehemann Nummer eins schmeißt sie raus, sie spannt einer anderen den Mann aus und heiratet erneut.
Ehemann Nummer zwei entpuppt sich als Säufer, Nadka, inzwischen Mutter, verläßt ihn, wird die Geliebte eines reichen Franzosen, geht mit ihm nach Paris. Jean-Marie hält Nadka und ihre Tochter zwar großzügig aus, versteckt sie aber vor Freunden und der Familie. Lange hält die junge Frau auch dieses Leben nicht aus. Verbittert, ohne einen Onassis, dafür mit Kind, kehrt sie nach der politischen Wende nach Moskau zurück. Dort ist jetzt alles möglich, wenn man clever und skrupellos ist. Diese Eigenschaften besitzt Nadka. Sie findet Arbeit in einer der aufstrebenden Immobilienfirmen. Am Tage arbeitet sie erfolgreich, schreckt vor unlauteren Geschäftsmethoden nicht zurück, nachts geht sie in Nachtbars, um ihren Onassis kennenzulernen. Eines Nachts hat sie ihn in einer Bar getroffen. Andrej ist Bankier, Vorstandsvorsitzender, verheiratet. Nadka verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr Glücksvogel entpuppt sich jedoch als schwacher Mensch. Da Nadka bisher alles bekommen hat, was sie wollte, beginnt sie mit allen Mitteln, um ihren Andrej zu kämpfen. Sie schiebt ihm ein Kind unter, erpreßt ihn, stellt ihn in der Öffentlichkeit bloß. Ohne den gewünschten Erfolg. Nadka muß einsehen, daß Glück sich nicht mit Gewalt erzwingen läßt. Als sie ihren Glauben an ihre Zukunft verloren hat, begegnet ihr das Glück doch noch völlig überraschend und unerwartet. Auf einer Vernissage ihrer Mutter begegnet ihr der Abgeordnete Iwan, dessen Äußeres sogar ein bißchen Ähnlichkeit mit Onassis hat. Er schafft es, hinter Nadkas berechnenden Eigenschaften die guten, positiven Neigungen hervorzuholen. Sie fühlt sich bei ihm sicher und geborgen.
Das Märchen wird am Ende doch nicht wahr, weil ihr Onassis sein ganzes Geld nach einer verlorenen Wahl verliert. Dafür ist sie selbst ein Glücksvogel, der ein Vielfaches gewonnen hat: den Glauben an sich selbst und einen Vater für ihre Kinder.
Viktorija Tokarjewa: "Glücksvogel", Diogenes Verlag, Zürich 2006, geb., 293 Seiten, 19 |
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