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Bedrohtes Kulturgut vor Verlust bewahren

 
     
 
Zwei Studenten aus Königsberg wanderten durch ein samländisches Dorf", berichtete die Schriftstellerin Hedwig v. Lölhöffel. "Sie sprachen bei einer Bauernfamilie an und fragten im Laufe des Gesprächs nach Volksliedern. ,Volksleeder - nee, so sägg wi nich , meinte die junge Frau, ,wi häbbe Schoolleeder on Kercheleeder on denn noch ons Leeder. Die Studenten baten um Beispiele. ,Schoolleeder , also Lieder, die der Lehrer den Kindern beibrachte, das waren gewöhnlich vertonte Gedichte aus der Romantik: ,Der Mai ist gekommen , ,In einem kühlen Grunde , ,Am Brunnen vor dem Tore und viele andere, in ganz Deutschland bekannte. Später übten sie die jungen Leute vierstimmig im Gesangverein im Wechsel mit Chorälen. Aber ,ons Leeder , also unsere Lieder", so die Schriftstellerin und Volksliedexpertin weiter, "das war, was auch Eltern und Großeltern sangen, was man in jungen Jahren von den etwas Älteren singen hörte und gleich auswendig konnte, auch wenn das Lied 20 Strophen hatte. Das war, was im Sommer bei der Heimkehr von Feld und Wiese durchs Dorf klang, im Winter auf dem Speicher beim Kornfuchteln oder in der Spinnstube, zu jeder Jahreszeit in der Küche beim Geschirrabwaschen, auch in der Stadt. ,Küchenlieder nennt man heute ein wenig spöttisch viele dieser Gesänge. Man lacht über die einst so ernst genommenen Schauergeschichten von Rittern und Räubern oder von der ungetreuen Gärtnerfrau."

Manche dieser Lieder sind noch heute in ganz Deutschland verbreitet, andere kannte man nur in bestimmten Gegenden, oft wurden sie auch mit stark voneinander abweichenden oder einander ähnlichen Texten und Weisen gesungen. Ein Volkslied zeichnet sich dadurch aus, daß es etwas Allgemeingültiges auszusagen hat. Es wurde von der Landbevölkerung
, aber auch von den Gebildeten in der Stadt gesungen. Bisweilen sind auch Kunstlieder, also von Dichtern geschaffene, zu Volksliedern geworden. Überhaupt war das Volkslied in seinem Ursprung die Leistung eines einzelnen, hat die Wissenschaft herausgefunden. Wenn auch das Lied ein Erfolg war und bald überall gesungen wurde, so war der Name seines Schöpfers schließlich vergessen.

Einigen Liedern hört man an, daß sie alt sind, aus frühen Jahrhunderten stammen, andere wurden verändert, dem Zeitgeschmack angepaßt. Jede Landschaft, jeder Stand arbeitete das Volkslied durch Umstellungen, Ergänzungen oder Weglassungen und Umdeutungen um. Alte Volksballaden wurden sogar zu Moritaten. Dabei gingen schönste Melodien, aber auch Texte verloren. Der aus dem ostdeutschen Mohrungen stammende Johann Gottfried Herder war der erste, der den Begriff "Volkslied" verwendete und zum Sammeln der Lieder aufrief. Diesen Sammlern haben wir es zu verdanken, daß es viele der ältesten, schönsten Lieder heute noch gibt.

"Je mehr Lieder wir singen, desto klarer erkennen wir, daß es im Volkslied keine ,richtigen und ,falschen Worte oder Melodien gibt", erläuterte Hedwig v. Lölhöffel, die ansonsten sehr kritisch war und großen Wert auf das Altüberlieferte legte.

"Lieder gehen weite Wege, Strophen gingen verloren und fanden sich wieder in anderen Gesängen. Oft ergänzen sich lückenhafte Inhalte beim Vergleich mit verwandten Liedern, Märchen und Kinderreimen. Alles Volksgut aus langer Überlieferung hängt zusammen wie Glieder einer Kette, wie Blumen im Kranz. Wer sich viele Lieder aneignet, kann beim Entdecken dieser Zusammenhänge viel Freude gewinnen, kann ehrfürchtig staunen, kann meinen, er habe wie im altdeutschen Wettspiel einen Kranz gewonnen."

Warum also nicht einmal alte Volkslieder für die heutige Zeit umarbeiten? Den Bedürfnissen junger Zuhörer anpassen? Achim Reichel, der alte Beat-Barde aus Hamburg und Gründer der Beatgruppe "The Rattles", die in den 60er Jahren Erfolge feierte, gibt mit seiner neuen CD "Volxlieder" (Tangramm / Indigo LC 13260) überzeugende Antworten auf diese Fragen.

"Am Brunnen vor dem Tore", "Die Gedanken sind frei", "Hohe Tannen", "Im schönsten Wiesengrunde", "Der Mond ist aufgegangen", "Röslein auf der Heiden", "Leise zieht durch mein Gemüt", "Weißt du wieviel Sternlein stehen" ... das sind nur einige der Titel, die Achim Reichel bearbeitet hat. Er hat den Liedern einen "anderen Atem, einen frischeren Puls" gegeben, hat sie sozusagen "entstaubt".

Im Beiheft sind Noten und Texte zu finden, aber auch Informationen zu den einzelnen Liedern, bei denen es sich durchaus nicht immer um reine Volkslieder handelt, die aber deshalb nicht weniger bekannt und beliebt sind.

Achim Reichel und Volkslieder - wie paßt das zusammen, wird sich der eine oder andere Beat- und Rock-Freund, der den Musiker in den wilden 60ern auf der Bühne mit den Beatles erlebt hat, fragen.

"Ich wollte Lieder finden", so Reichel, der auch im Volksliedarchiv in Freiburg (Br.) Recherchen anstellte, "die zu meiner musikalischen Welt, zu all dem, was sich da in vielen Jahrzehnten gespeichert hat, passen. Ich hab mir gesagt, schöne Lieder sind schöne Lieder, egal, wo sie herkommen."

Reichel: "Man sollte, wenn man über Kultur und auch über Populärkultur redet, klarstellen, daß Populärkultur nicht immer gleich fremde Kultur bedeuten muß, daß es ganz wichtig ist, daß es neben einer globalen Kultur auch noch eine regionale gibt. Das sind für mich die Triebfedern. Es ist wichtig, etwas anzubieten, was eine andere Sprache spricht als die von internationalen Markennamen und Medien gesteuerten Trends."

Wenn vielleicht auch nicht jeder mit den neuen alten "Volxliedern" etwas anfangen kann und so manchem Sangesfreund alter Schule der Ton im Halse stecken bleibt - zunächst -, so sind die Bearbeitungen von Achim Reichel durchaus ins Ohr gehend.

Und wer weiß? Vielleicht bleiben die so bearbeiteten Lieder doch noch ein wenig länger lebendig. Wie frisch sie tatsächlich sind, hört man auf der Einspielung.

 

Mehr als 170 der beliebtesten deutschen Lieder findet man in einer Sammlung, die Prof. Dr. Siegmund Helms im Komet Verlag, Köln, herausgegeben hat: Die schönsten Volks- und Wanderlieder (422 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 12,95 Euro). Die vollständigen Texte werden durch ein klares Notenbild mit Gitarrengriffen ergänzt. Liebevoll wurden die Illustrationen ausgesucht, die Adrian Ludwig Richter (1803-1884) seinerzeit schuf. Die treffliche Auswahl der Lieder führt durch die Jahreszeiten und auf Wanderschaft. Man hört von Liebe und Leid, von Frohsinn und Schmerz. Auch geistliche Lieder sind in der Sammlung zu finden, die als ein Beitrag zur abendländischen Kulturgeschichte zu werten ist. (os)
 
     
     
 
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