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Sankt Petersburg: Potemkin an der Newa

 
     
 
In der vom Historiker Valen- tin Giterman verfaßten Ge- schichte Rußlands ist über die Gründung von Sankt Petersburg vor 300 Jahren Folgendes zu lesen: "Der Krieg (gegen Schweden) war noch nicht gewonnen und die Annexion dieses Abschnitts der Ostseeküste keineswegs schon endgültig gesichert. ‚Ein Fenster nach Europa durchzubrechen war aber das höchste Ziel des Zaren, und so zögerte er denn nicht, den Bau der neuen Stadt mit dem rücksichtslosesten Einsatz aller Kräfte zu betreiben (...).

Auf sumpfigem Gelände, welches oft von Überschwemmungen heimgesucht wurde, ließ der Zar nach und nach wohl Hunderttausende von Erdarbeitern und Handwerkern antreten, die unter schrecklichen Existenzbedingungen, durch Unterernährung und Epidemien immer wieder dezimiert, Entwässerungskanäle zu graben, Baumstämme in den Boden zu hämmern und auf den mühsam gelegten Fundamenten palastartige öffentliche Gebäude aufzuführen hatten.

Um alle Steinmetzen und Maurer
zu zwingen, sich nach Petersburg zu begeben, befahl Peter - und die Verordnung galt jahrelang -, im ganzen übrigen Reich nur noch hölzerne Häuser zu errichten."

Zar Peters I. neues "Paradies" an der Newa, das so überhaupt nur in einem autokratisch regierten Reich entstehen konnte, ist bis heute das glänzende Schaufenster nach Westen geblieben. Allerdings blättert mittlerweile an vielen Gebäuden der Putz ab.

Offiziellen Angaben zufolge gibt es mehr als 150 baufällige Häuser und über 3000 baufällige Wohnungen (tatsächlich dürften es viel mehr sein); im letzten Jahr stürzten sogar fünf der völlig verwahrlosten Gebäude in sich zusammen.

Das genaue Gründungsdatum Petersburgs ist der 27. Mai bzw. nach dem in Rußland bis zum Februar 1918 geltenden julianischen Kalender der 16. Mai.

Gefeiert wird zwar das ganze Jahr über, doch richtig der Bär los ist in den anderthalb Wochen nach dem 23. Mai. Dann steht u. a. die Wiedereröffnung des Marmorpalastes an, und für den 27. und den 31. Mai - also jenen Tag, an dem sich zahlreiche Staatschefs in St. Petersburg versammeln und der G-8-Gipfel seinem Ende zugeht - ist ein großes Wasserspektakel auf der Newa für bis zu 100 000 Zuschauer geplant. Dabei gibt man sich international: eine französische Firma besorgt das Rahmenprogramm aus Feuerwerk und Laserschau, und Boote mit den Flaggen aller Herren Länder schippern an den Schaulustigen vorbei.

Zum Ende der Festwoche wird im Katharinenpalast im nahen Zarskoje Selo - der prächtigsten Residenz der Romanows - das rekonstruierte Bernsteinzimmer der Öffentlichkeit übergeben.

All diese Prachtentfaltung erscheint wie ein Abglanz der alten Zarenzeit, als in der Newastadt der imperiale Anspruch des Russischen Reiches ebenso demonstrativ zur Schau gestellt wurde wie der unglaubliche Reichtum der damaligen Oberschicht. Beides in einem Maße, wie es so zu dieser Zeit wohl nirgendwo sonst auf dem Globus möglich war.

Vergleiche zur vorkommunistischen Ära hinken jedoch nicht nur in politischer und soziologischer Hinsicht (die "neuen Russen" sind beim besten Willen nicht mit der einstigen Aristokratie zu vergleichen...), sondern vor allem auch mit Blick auf die materiellen Verhältnisse.

Einst waren die Vermögen zweifellos sehr ungleich verteilt, und es gab unzählige arme Menschen, aber der russische Staat und mit ihm seine Hauptstadt Petersburg waren ausreichend "flüssig". Das ist heute völlig anders: Der Jubiläumskraftakt der 1991 von Leningrad rückbenannten Stadt übersteigt bei weitem deren finanzielle Möglichkeiten.

Zwar ist Petersburg mit seinen forschungsintensiven Produktionszweigen wie dem traditionsreichen Maschinenbau das zweitwichtigste Wirtschaftszentrum der Russischen Föderation und hat einen hervorragenden Ruf als Bildungs- und Kulturstadt, aber Geld ist kaum da, und ihren einstigen Rang als Hauptstadt dürfte die 4,6-Millionen-Metropole an der Ostsee endgültig an das dynamischere Moskau verloren haben.

Während Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rußlands "Laboratorium der Moderne" (Karl Schlögel) war, ist es Moskau zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Im Vorfeld der jetzigen Feiern zeigte sich, daß selbst der in der Newastadt beheimatete Präsident Putin samt seiner zum Teil von dort mitgebrachten Entourage wenig am Schattendasein Petersburgs geändert hat. Zwar wurde emsig restauriert bzw. neu gebaut, doch vieles fiel der Unfähigkeit kommunaler Ämter oder der Korruption zum Opfer und blieb unfertig.

Letzteres gilt beispielsweise für die Ringautobahn oder den neuen Ladoga-Bahnhof. Nicht fertig geworden ist auch die Wiederherstellung einer 1996 durch Überschwemmungen beschädigten U-Bahn-Linie sowie ein Hochwasserdamm durch den Finnischen Meerbusen, der solchen Katastrophen vorbeugen soll. Keinen rechtzeitigen Abschluß fanden ferner die Arbeiten an der Peter-und-Paul-Festung, der Admiralität, der Kasaner Kathedrale und dem Zentrum für Kardiologie und Onkologie. Obendrein muß angesichts der gähnenden Leere in der Stadtkasse ein gutes Drittel der geplanten Festveranstaltungen ausfallen.

Das was abgeschlossen wurde, etwa das Gebäude für die öffentlich zugänglichen Magazine der Eremitage , wäre ohne die rund 40 Milliarden Rubel (ca. 1,18 Milliarden Euro) gesamtstaatlicher Zuschüsse unvorstellbar gewesen.

Angesichts der vielen auf Eis gelegten Vorhaben muten manche Maßnahmen, etwa die Straßenreparaturen im Stadtgebiet oder der Komplettanstrich ausgesuchter Straßen wie "Potemkinsche Fassaden" an. Nicht von ungefähr prangerte die Nesawissimaja Gaseta Mitte April an, daß sich der Renovierungsplan offenbar "nach dem Fahrplan der VIP-Wagenkolonnen" richte.

Bezeichnend ist darüber hinaus, daß das Bernsteinzimmer überwiegend von der deutschen Ruhrgas AG bezahlt wurde und daß sich Coca-Cola als wichtiger Sponsor der Eremitage hervortut. Deren Schätze genießen zwar immer noch Weltruhm, doch der Haupteingang harrt dringend einer Restaurierung. Doch selbst dafür fehlt das Geld. Hilfe kommt nun ausgerechnet aus Amerika vom russischen Ableger des Coca Cola-Konzerns.

Dieser unterstützt die Eremitage bereits seit zehn Jahren und stellt anläßlich der Jubiläumsfeiern Dosen mit Ansichten des Kunstmuseums her. Ein Teil des Erlöses soll für die Instandsetzung des Eingangs verwendet werden.

Doch trotz allem war und ist Sankt Petersburg eine großartige Stadt. Ob sich ihr nordischer Zauber allerdings während des Geburtstagsrummels offenbart, ist mehr als zweifelhaft. Besser ist wohl, man bereist die Metropole etwas später - am besten im Juni, wenn die "weißen Nächte" aus den Hebebrücken über das Wasserlabyrinth der Newa, den vielen vergoldeten Kuppeln und dem Denkmal des "Ehernen Reiters" Zar Peter d. Gr. ein russisches Märchen machen.

Denkmal Zar Peters I.: Dieser Herrscher ging beim Bau "seiner" Stadt buchstäblich über Leichen, /p> Viele Bauvorhaben fielen der chronischen Geldknappheit zum Opfer
 
     
     
 
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