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DDR-Strafvollzugsanstalt Waldheim bei Chemnitz im Dezember 1950, 5 Uhr in der Frühe. Eine Trillerpfeife weckt die weiblichen Häftlinge, unter ihnen die 20 Jahre alte Pädagogikstudentin Edeltraut Eckert (Häftling 3911). Die Frauen, in Männerunterwäsche mit langen Ärmel n und Hosenbeinen, hasten in den unbeheizten Waschraum, angetrieben von Wachtmeisterinnen mit Gummiknüppeln. Es gibt nur kaltes Wasser, keine Seife, Zahnstein statt Zahnpasta. Nach dem Waschgang streifen die Frauen ihre graublauen Drillichanzüge über. Dann: Bettenbauen, Zählappell. Das Frühstück: ein Becher lauwarme Ersatzkaffeebrühe, ein Stück altes Brot, etwas Margarine und Marmelade. Mit anderen Frauen wird Edeltraut Eckert dann den Tag über zum Zurechtschneiden von Kaninchenfellen eingesetzt. Im März 1951 wird diese Arbeit als gesundheitsschädlich eingestellt. Eckert muß nun Stoff-Fetzen sortieren oder an einer Knopflochmaschine arbeiten.
Am 5. Dezember 1950 schreibt sie in dem einen monatlichen Brief an ihre Eltern und Geschwister: "Laßt Euch das erste Weihnachtsfest ohne mich nicht so schwer werden, in Gedanken bin ich immer bei Euch ... Feiert nur so, als ob ich bei Euch wäre." Warum wurde die Familie auseinandergerissen?
Die 1930 als fünftes Kind einer Buchhändlerfamilie in Hindenburg geborene Edeltraut Eckert war nach der Flucht aus Oberschlesien 1945 nach Brandenburg / Havel gekommen. Dort schloß sie sich nicht der am Ort besonders rührigen katholischen Jugend an, sondern ging voller Idealismus zur FDJ. Bald aber ernüchterte sie die politisch-gesellschaftliche Entwicklung in der SBZ. Nach dem Abitur begann sie ein Pädagogikstudium und führte zusammen mit drei Kommilitonen im Auftrage der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" heimlich Flugblatt-Aktionen durch: "Freiheit der Ostzone - Feindschaft dem Terror".
Die Gruppe flog schnell auf. Am 10. Mai 1950 wurde Eckert festgenommen. In brutalen Verhören, zunächst durch Volkspolizisten, dann durch sowjetische Spezialisten, wurde sie für das geheime Schnellverfahren präpariert, indem sie 25 Jahre Haft und Arbeitslager erhielt. Zum Glück wurde sie nicht nach Sibirien deportiert, sondern dem DDR-Strafvollzug übergeben. Erste Station: Waldheim.
Daß die junge Frau in der Haft nicht seelisch zerbrach und gerade in der Advents- und Weihnachtszeit, die für sie mit so vielen schönen Erinnerungen an die Familie verbunden war, nicht von Verzweiflung überwältigt wurde, verdankte sie ihrer Liebe zu Dichtung und Musik. Gedichte und klassische Musikstücke ließ sie immer wieder in ihrer Vorstellung lebendig werden, und sie verfaßte auch eigene Gedichte, mit denen sie gegen das Zuchthauselend anschrieb. In ihrem Weihnachtsgedicht 1950 heißt es: "Mein Herz ist daheim in der Heiligen Nacht / Und atmet in allen Dingen, / Zu Euch hat ein gütiger Wind mich gebracht / Auf meiner Sehnsucht Schwingen."
Nur ganz selten ließ die Waldheimer Anstaltsleitung Gottesdienste für die Häftlinge zu. An ihrem zweiten Weihnachtsfest hinter Gittern konnte Eckert an der Heiligen Messe teilnehmen und die Kommunion empfangen. Aber selbst die Gnadenmittel der katholischen Kirche konnten sie nicht aus ihrer niedergedrückten Stimmung herausreißen: "Das Weihnachtsfest ist vorüber, ich bin froh, daß diese trübsten Tage des Jahres überstanden sind. Aber auch für Euch wird es nicht einfach gewesen sein." Im Rückblick auf ihr drittes Gefängnis-Weihnachten vertraute sie ihrer Familie an: "Ich bin nur froh, daß wir Weihnachten hinter uns gebracht haben, das ist immer am schwersten. Die Jahre vergehen schon irgendwie. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das wohl ist, zu Hause zu sein." Als das vierte Knast-Weihnachten allmählich heranrückte, schrieb Eckert ihren Verwandten: "Seid nicht traurig, ich habe mir in all dem Schweren den Sinn für das Schöne und die Freude am Guten erhalten. Ja, man lernt gerade hier aus den kleinsten Dingen, an denen man früher achtlos vorüberging, Freude zu schöpfen. Seid also unbesorgt. Noch habe ich mich nicht selbst aufgegeben, wenn auch das jahrelange ununterbrochene Zusammensein mit immer den gleichen Menschen zermürbend wirkt." Was ihr immer wieder half: "Ich bin so eingesponnen in meine Verse, Melodien und Sätze." Im März 1954 wurde Eckert in die Strafanstalt Hoheneck (Erzgebirge) verlegt: schlechteste hygienische Anlagen, stickige Enge, sadistische Wärterinnen, primitiver Kommandoton, härteste Arbeitsbedingungen für die inhaftierten Frauen. Wegen des Versuchs, Kassiber hinauszuschmuggeln, erhält Eckert mehrere Wochen Einzelhaft in der "Tigerzelle", einem dunklen, feuchten Kellerloch. Warmes Essen gab es nur alle drei Tage: eine Haferflockensuppe, auf der die Maden schwammen.
Am 24. Januar 1955 erlitt Eckert einen schweren Arbeitsunfall. Ihr Haar geriet in eine Getriebewelle, dabei wurde die Kopfhaut großflächig abgerissen. Die ärztliche Versorgung war ungenügend, die wiederangenähte Kopfhaut eiterte. Am 8. April wurde die Patientin in die Universitätsklinik Leipzig eingeliefert, Diagnose: drohender Wundstarrkrampf. Nach einem schweren Todeskampf starb Edeltraut Eckert am 18. April 1955. Zwei Tage später wurde sie eingeäschert und ihre Urne in einem geheimen Massengrab beigesetzt.
Bis zu ihrem Tod gab Eckert die Hoffnung nicht auf, die sie in ihrem Weihnachtsgedicht 1953 vertrauensvoll ausgedrückt hatte: "Du sollst nicht zweifeln, daß es werde, / Siehst du zur Nacht auch keinen Schein, / Denn neues Licht kommt auf die Erde / Und du mußt stark und gläubig sein." |
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