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Im Flüchtlingslager: Aus den Erinnerungen des Dichters Walter Scheffler

 
     
 
Es gibt Briefe, die hütet man wie eine Kostbarkeit, weil sie die Erinnerung an einen lieben Menschen lebendiger halten als ein Foto oder ein anderes Andenken. Den man einmal geliebt hat oder der einem vertraut war, und dessen Nähe man beim Lesen der Briefe wieder zu spüren scheint, selbst wenn Jahrzehnte vergangen sind. Briefe können aber auch mehr sein: Dokumente von Ereignissen, hautnah erlebt und festgehalten und daher authentisch
er als spätere Aufzeichnungen oder Befragungen. So gesehen ist der Brief des Königsberger Dichters Walter Scheffler an Dorothea Kalcher, Freundin und Arbeitskollegin seiner späteren Frau Erna, von besonderem Wert: Er ist nicht nur ein Dokument der Flucht und des Lagerlebens in Dänemark, mit der Akribie des Schriftstellers aufgezeichnet, sondern bringt uns ein persönliches Schicksal besonders nahe. Und wohl auch die schwersten Stunden im Leben unserer großen Dichterin Agnes Miegel. So gesehen auch ein Kapitel ostdeutscher Kulturgeschichte. Es ist der Empfängerin des Briefes zu danken, daß sie ihn aufgehoben und ihn uns überlassen hat.

Walter Scheffler erinnert sich zu Beginn des langen Schreibens an jene letzten Stunden der Gemeinsamkeit, die er im Sommer 1944 mit Dorothea Kalcher und seiner langjährigen treuen Lebensgefährtin Erna Klein in Schefflers Schrebergarten am Fürstenteich verbrachte. "Ich erhielt ganz ausnahmsweise – es war wie ein Abschiedsgruß meiner lieben Heimatstadt – ein paar Flaschen edelsten Rotweins vom Blutgericht." Dann kamen die Bombennächte – "sie zerfraßen das ganze alte Königsberg" – und schließlich nach einem in stillem Bangen verlebten Weihnachtsfest festigte sich die Gewißheit, die Heimatstadt verlassen zu müssen. Der taube Dichter wollte mit seiner Gefährtin zu deren nach Schneidemühl geflüchteter Mutter, aber nach langen, vergeblich durchwachten Nächten auf dem Hauptbahnhof wurde ihnen bewußt, daß es vorerst kein Herauskommen aus der eingeschlossenen Stadt gab. Nach fünf Wochen, als die Strecke nach Pillau von den deutschen Truppen noch einmal freigekämpft worden war, ein Schimmer von Hoffnung, als die Zurückgebliebenen hausblockweise auf Leiterwagen zum Hafen abtransportiert wurden.

"Wir in der Krausallee warteten nun auf unseren Abruf. Da kam noch schnell eine junge Fürsorgerin geradelt und fragte, ob ich mit dem Transport, mit dem Agnes Miegel fahren sollte, mitkommen wollte. Ich: Nur unter der Bedingen daß Erna auch mitfahren dürfe, sie war kurz zuvor noch bei Agnes Miegel gewesen. Ja – und wir wurden mit einem Auto abgeholt und zum Hafen gebracht, wo wir auf ein kleines Kriegsschiff verfrachtet wurden. Agnes Miegel war schon da." (Hatte sie vielleicht veranlaßt, daß der seit frühester Jugend taube Dichter geholt wurde?)

Die Fahrt ging nach Neufahrwasser. Nach einer auf kaltem Hallenboden verbrachten Nacht wurden Agnes Miegel mit ihrer Haushälterin Elise Schmidt, Scheffler und Erna Klein in ein gutes Zoppoter Quartier gebracht. Agnes Miegel hielt im Danziger Sender eine Abschiedsrede. Nach drei Tagen ging es auf einem größeren Schiff nach Swinemünde, das zehn Tage lang in der Bucht ankerte, bis der große Angriff kam. Kaum hatte das Schiff seinen Ankerplatz verlassen, fielen mehrere Bomben auf diese Stelle. "Wunderbare Rettung!" Der weitere Fluchtweg: Über See nach Kopenhagen, dann mit dem D-Zug über Korsör, von Nyborg an in nur mit dünnem Stroh ausgelegten Viehwagen nach Jütland, Agnes Miegel immer dabei. Vorerst Endstation Grindsted. "Wir lebten ganz nett in einem Theatersaal, die deutschen Soldaten hatten uns Etagenbetten gebaut, sie verpflegten uns auch, außerdem bekamen wir täglich eine Krone Taschengeld. Erna, sonst so schüchtern und zart, war wie verwandelt, zeigte viel Mut und Hoffnung und war mir bei meiner Taubheit eine unersetzliche Hilfe in der Fremde. Sie setzte es auch durch, daß wir ein Zimmer in einem Hotel bekamen, gleich Agnes Miegel."

So ging es bis zur Kapitulation. Auf einmal änderte sich alles schlagartig. Da wurde in den Geschäften jeder Verkauf an Flüchtlinge verboten, es kam zu Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit und schließlich der Transport in das Lager Oksböl an der Nordseeküste. Zuerst wurden Walter Scheffler und seine Lebensgefährtin in einem 4-Bett-Zimmer in einer Baracke untergebracht, gemeinsam mit einem alten, sterbenswilligen Lehrer aus Quednau mit seiner Tochter. Aber dann erhielt der 65jährige, der so gerne wieder schreiben wollte, für sich und seine Gefährtin ein freigewordenes "Kopfstübchen" – so genannt, weil es sich am Kopf einer Baracke befand – und dazu noch recht gut möbliert.

"Wir waren glücklich! Nun ergab sich aber die Notwendigkeit, daß Erna und ich heirateten. Wir mochten nicht so zu zweit in einem Zimmer wohnen. Innerlich hemmte uns nichts – wir waren ja seit 20 Jahren herzlich befreundet, sozusagen verlobt, und auch Agnes Miegel hatte uns schon in Grindsted zu einer Ehe geraten. Sie und eine Lehrerin, Nachbarin aus der Hornstraße in Königsberg, wurden unsere Trauzeugen in dem kleinen deutschen Standesamt im Lager. Es war eine sehr ärmliche Hochzeitsfeier, den Verhältnissen entsprechend, aber wir waren zufrieden und froh, so untergekommen zu sein, und Freunde hatte wir genug unter den anderen Königsbergern, die mich schon kannten."

Aber das späte Eheglück ist bereits überschattet. "Sie erinnern sich vielleicht, daß Erna seit dem Jahr 1941 an einem eigentümlichen Magenleiden litt. Es war immer schlimmer geworden, vor allem auf dem Schiff, aber in Grindsted hatte es sich erheblich gebessert. Jetzt begann es bei dem mangelhaften Lageressen von neuem, und nach wenigen Wochen mußte Erna in die Krankenhausbaracke. Dort wurde sie besser verpflegt und blieb sechs Wochen, freilich gab es aber auch da keine rechte Diät, außerdem fehlten Medikamente. Nach kurzer Besserung kam sie wieder zu mir in unser Stübchen, arbeitete fleißig an Aquarellen und entwickelte besonders im Blumenmalen erstaunliche Fähigkeiten. Die Bilder verschenkte sie meistens, sie wollte sich für die Rückkehr nach Deutschland einüben, um dann zu versuchen, mit ihrer Kunst etwas zu verdienen. Aber die Ausreise ließ auf sich warten, ja, wir bekamen keine Post mehr von dort, und durften auch nicht schreiben. Rund um das Lager doppelter Stacheldraht und Posten mit Gewehr: Gefangene. Das drückte sehr auf Erna, dreimal baten wir schriftlich, gestützt auf Atteste, um Ausreiseerlaubnis, doch niemand wurde herausgelassen. Da begann das Magenleiden und die depressive Stimmung bei meiner jungen Frau überhand zu nehmen, sie magerte erschreckend ab, aß nichts mehr und mußte wieder ins Lazarett. Nur wenige Tage lag sie dort – dann fand ich sie eines Morgens tot …"

Für Walter Scheffler, dem durch seine Taubheit und mühsam errungenes Schaffen hart Geprüften, begann die schwerste Zeit seines Lebens, der trübste Herbst dort in einem unwirtlichen Lande, vereinsamt und in unendlicher Trauer um seine ihm so lange herzlich verbundene Gefährtin. "Man kam wohl, um mich zu trösten und wieder aufzurichten – jetzt nach der Flucht und unter Fremden im Lager war ich mir des Wertes und der Güte meiner immer geduldigen, treu um mich bemühten Erna erst so recht bewußt geworden. Ich hatte nun genug vom Leben und hoffte sehr, daß es auch mit mir bald aus sein werde." Walter Scheffler mußte noch drei Jahre im Lager verbringen, langsam kam doch wider Erwarten etwas von Lebenswillen zurück. Er ging zuerst zu seiner Nichte, die in einem Dorf in der Elbmarsch als Witwe mit ihren Kindern Unterkunft gefunden hatte, und kam schließlich mit Hilfe einer treuen alten Königsbergerin in einem Altersheim Bethels unter. Dort begann er auf einer gestifteten Schreibmaschine wieder zu schreiben, auch diesen Brief, und "ab und zu wird wieder etwas von mir gedruckt". Das Heimweh bleibt: Nachts wandert er in seinen Träumen durch die Heimatstadt. Die Folgen eines Unfalls bestimmten seinen Umzug nach Hamburg zu den letzten Verwandten. Dort starb "Walter von der Laak", wie er nach seinen so betitelten Kindheits- und Jugenderinnerungen genannt wurde – die Agnes Miegel als eine der besten Biographien bezeichnete – am 17. April 1964 im Alter von 84 Jahren. Dorothea Kalcher lebt heute 86jährig in Neu-Ulm. Walter Scheffler und seine Frau, mit der sie zusammen im Königsberger Landesamt für Vorgeschichte tätig gewesen war, blieben für sie unvergessen. Werner Müller

 
     
     
 
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