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Realpolitik statt Phrasen

 
     
 
Nachdem auch die Bevölkerung Tschechiens in einem Referendum am 13./14. Juni dem Beitritt zur Europäischen Union zustimmte (mit 77 Prozent bei einer Beteiligung von 55 Prozent), ist die großangelegte Erweiterung unter Dach und Fach.

Mit Polen und Tschechien kommen im Mai 2004 die beiden von der Bevölkerungszahl bzw. Wirtschaftskraft
her wichtigsten ostmitteleuropäischen Staaten hinzu. Die noch ausstehenden Volksabstimmungen in Estland und Lettland können selbst bei (nicht zu erwartenden) Mehrheiten für die Beitrittsgegner das Gesamtprojekt nicht mehr gefährden.

Somit beginnt jetzt ein neuer geschichtlicher Abschnitt, in dem anstelle des medial gesteuerten Euro-Enthusiasmus immer mehr die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Erweiterung in den Vordergrund treten. Am Anfang dieser Phase voller Herausforderungen, Entäuschungen und sozialen Verwerfungen sollten sich gerade die deutschen Vertriebenen vergegenwärtigen, welch großer Fortschritt die EU-Erweiterung bedeutet: Die Teilung Europas, die ja auch die innerdeutsche Spaltung und die räumliche wie geistige Trennung vom ostdeutschen Erbe einschloß, geht endgültig zu Ende.

Zwar werden auch ab 2004 nicht alle Kernländer Europas Mitglieder der Europäischen Union sein (man denke nur an die Schweiz, Kroatien oder Rumänien), aber die früher oft fälschlich mit Europa gleichgesetzte EU kann dann mit viel größerer Berechtigung als Organisationsform des Kontinents gelten. Es wächst zusammen, was zusammengehört, allerdings nicht als Folge der Brandtschen Ostpolitik der Anbiederung und Verharmlosung des Sowjetsystems, sondern als Konsequenz aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im "Ostblock".

Für die deutschen Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler und ihre Vereinigungen bietet sich die Chance, den schwierigen Prozeß der geistigen und wirtschaftspolitischen Wiederannäherung zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa aktiv mitzugestalten und dabei als ihr "Kapital" das Wissen um die fast vergessenen deutschen Kulturleistungen im Osten, den eigenen familiären Hintergrund und heute vor Ort bestehende Beziehungen einzubringen.

Alle (berechtigten) Klagen über die von der bundesdeutschen Politik bei den Verhandlungen um die Erweiterung verschenkten Möglichkeiten - hier sei nur an die Hinnahme der Benesch-Dekrete und das skandalöse Fortbestehen des tschechischen Straffreistellungsgesetzes vom Mai 1946 erinnert - helfen bei der Lösung der gestellten Aufgaben nicht weiter. Letztlich geht es um die Erneuerung der jahrhundertelangen Rolle Deutschlands als Mittelmacht. Die Vermittlerrolle zwischen dem westlichen und östlichen Europa kann nicht an Brüssel abgegeben werden.

Vor diesem Hintergrund sollte die deutsche Politik künftig von einer EU-skeptischen Grundposition aus agieren, wie sie der stellvertretende Vorsitzende der tschechischen Demokratischen Bürgerpartei ODS, Jan Zahradil, vertritt. Zahradil, der als einer von drei Politikern seines Landes dem EU-Konvent angehört, meint, daß Tschechien nur als Mitglied Entwicklungen beeinflussen könne, die aus der Union einen "föderalen Superstaat" machen würden.

Die Zeichen für eine in diesem Sinne erfolgreiche Politik stehen gut, denn mit der Erweiterung um zehn Staaten auf einen Schlag dürfte das auf mehr Zentralismus und die Beseitigung nationaler Souveränitätsrechte bedachte Brüssel überfordert sein - zumal die wichtigste Geldquelle Deutschland immer weniger sprudelt. Martin Schmidt
 
     
     
 
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