|
Patrick Süskind, Autor von "Das Parfum", bejubelt Wolf Wondratscheks "Kelly-Briefe" im "Spiegel" als besten Prosatext, den er von ihm kenne, und die "Stuttgarter Zeitung" vergleicht Wondratschek mit Glenn Gould, einem, bereits 1982 verstorbenen, berühmten kanadischen Pianisten und Komponisten.
Die Erwartungshaltung des Lesers ist aufgrund solch hervorragender Kritiken natürlich dementsprechend hoch, und da das Buch jetzt als Taschenbuch erschienen ist, geht die Entscheidung, sich ein eigenes Urteil zu bilden, nicht allzu sehr ins Geld.
Was der Leser vorfindet, ist eine Reihe verwirrend-verrückter Briefe, geschrieben von einem Menschen, der, eigentlich geistig gesund, eine Irrenanstalt in New York als Zuflucht vor der Welt und dem Leben sein Zuhause zu nennen scheint.
Die Briefe, die alle an eine gewisse Dame namens Kelly adressiert sind, mit welcher der Schreibende offensichtlich einst eine Liaison hatte, kann man allerdings nicht als Liebesbriefe im herkömmlichen Sinne bezeichnen. Vielmehr setzt sich der Verfasser mit seiner momentanen Lebenssituation, seinen widersprüchlichen Gefühlen für Kelly, die er bittet, ihn auf keinen Fall zu besuchen, vergangenen Erlebnissen und seiner Unfähigkeit zu lieben auseinander.
Diese letzte Behauptung wird jedoch in Anbetracht der Tatsache, daß er eben diese Kelly immer wieder mit den verschiedensten Kosenamen belegt und daß er vom regelmäßigen Erhalt ihrer Briefe zehrt, da um ihn herum das Leben stillzustehen scheint, Lügen gestraft. Die emotionale Gleichgültigkeit des Klinikalltages wirkt andererseits aber auch beruhigend auf den Schreiber der Briefe, sie gibt ihm eine Konstante in seinem aus Gefühlschaos bestehenden Leben. Immer wieder ertappt sich der Leser dabei, wie er innerlich mit sich ringt, ob der Verfasser im Endeffekt nur etwas absonderlich oder wirklich geisteskrank ist.
"Liebste, Liebling ... Was tue ich hier? Mich dem drohenden Selbstmord entgegenstemmen, wie Dr. Mitchell weiterhin behauptet? Sie hält mich für einen größenwahnsinnigen Versager, der durch die Echokammern seiner Seele irrt, ein bettelnder König ohne Krone ..."
Auch wie es dazu kam, daß er überhaupt in die Anstalt eingewiesen wurde, enthält er Kelly in seinen Briefen nicht vor. "Ich hatte nie gekannte Ängste. Ich hatte Weinkrämpfe, unkontrollierte Ausbrüche von Aggressionen, Anfälle von Schwermut, irgendwer in mir schrie um Hilfe, ein anderer (auch in mir) machte Witze über die Welt, ein dritter wollte eine Frau haben, wobei noch ein anderer, der auch ich war, nicht einmal das mehr wollte, im Gegenteil, er haßte das Geschwätz, das Verführungen vorausgeht. Ich redete mit mir selber, vollgepumpt mit Selbstekel, und wußte gleichzeitig nie, was ich tat, wer ich war ... Ich mußte, mein Gott, ich mußte, auf welche Weise auch immer, zur Ruhe kommen. Ich suchte ein Abstellgleis auf diesem gigantischen Verladebahnhof."
Wer sich auf den letzten Seiten ein klares Ende wünscht, wird jedoch enttäuscht.
Mit "Kelly-Briefe" lädt Wondratschek den Leser quasi indirekt zum Philosophieren, Interpretieren und Herumrätseln ein.
Letztenendes wird der Briefeschreiber zwar als "geheilt" aus der Klinik entlassen, aber geheilt wovon? War er je krank? Ist er es noch? Leidet er unter einer bestimmten Art von Schizophrenie? Handelt es sich um Depressionen aufgrund von Alltags-Streß und Überforderung? Und will beziehungsweise wird er die mysteriöse Kelly wiedertreffen?
Wolf Wondratschek: "Kelly Briefe", dtv, München 2006, 153 Seiten, 9,50 Euro 5802 |
|